Review: 18. Wave Gotik Treffen 2009 (Freitag – 29.05.2009)

Foto: Elmar "Ritti" Herrmann

Foto: Elmar „Ritti“ Herrmann

Liebe Gemeinde, das Wave Gotik Treffen zu Leipzig ging in diesem Jahr in seine 18. Runde. An sich zwar kein runder Geburtstag aber trotzdem eine günstige Gelegenheit für Schwarzkittel von nah und fern, der realen Welt zu entfliehen und für ein paar Tage einfach mal Mensch zu sein. Dabei scheint die Wirtschaftskrise nun auch das Wave Gotik Treffen erreicht zu haben. So mauschelte man neben den vorhandenen attraktiven Highlights, wie VNV Nation, ASP, Combichrist und Agonoize auch eine ganze Reihe von Lesern, Gauklertruppen und Randerscheinungen in das offizielle Programm, um sich am Ende auf die beeindruckende Summe von 190 Künstlern zu pimpen.

Seis‘ drum, selbst der sportlichste WGT-Gänger kann eine solch Masse nicht mal im Ansatz bewältigen und im Grunde ist das Programm beim WGT ohnehin SO nebensächlich, dass sich die Besucher nur in 80% der Fälle als erstes DARÜBER beschweren. Über Geschmack lässt sich bekanntermaßen nicht streiten und so sollte in dem Potpourrie aus unzähligen Strömungen für jeden etwas dabei sein. Vor allem die Bandbreite war schon immer die Stärke des Wave Gotik Treffens und diesen Trumpf gab die Leipziger Treffengesellschaft auch in diesem Jahr nicht aus der Hand.

Ob Schlagstromelektro, Oldschool-EBM, Ambiente, 80´er Wave, Neue Deutsche Härrrrte, (Neo)-Folk, Mittelalter, Gothic-Rock, Goth-Punk, Psychobilly oder brachialer Metal, wer sich die Mühe machte danach zu suchen würde all dies finden. Garniert wurde das Aufgebot erstmals mit zwei Vorträgen des bekanntesten deutschen Forensikers Dr. Mark Benecke, Filmvorführungen im Cinestar, Lesungen und dem Aeternitas Vampir Musical „Rapaccinis Tochter“, das täglich im Schauspielhaus über die Bühne ging. Leider machte es einem das WGT in diesem Jahr nicht immer ganz leicht, musikalische Highlights in der Masse zu erkennen, da sich sehr viele neue, dem Wochenendgruftie eher unbekannte Acts in das Line-Up gemischt hatten.

Im Zeitalter von MySpace und eines aktiven Internetforums zum WGT, das mit entsprechenden „Netzverweisen“ akribisch über jeden Neuzugang Buch führte, konnte sich jeder Besucher, ein wenig Forschungsdrang vorausgesetzt, seine persönliche Favoritenliste zusammenstellen. Im Grunde eine heilsame Abwechslung in Zeiten wo der durchschnittliche Szeneanhänger es gewohnt ist, serviert zu bekommen was er zu fressen hat.

Nachdem der in Leipzig gern gesehene Spuk bereits am Donnerstag mit etlichen Warm-Up Veranstaltungen begonnen hatte, machte auch ich mich am frühen Freitag Morgen auf den Weg in die sächsische Metropole, um pünktlich zum offiziellen Start auf der Matte zu stehen. Leider gestaltete sich dieses Vorhaben schwieriger als geplant! Pfingstreiseverkehr, überforderte „Fritten-Prinz“-Kassiererinnen an der Raststätte und die erfolglose Suche nach einem Parkplatz in der Nähe des Hotels, schmolzen das veranschlagte Zeitfenster immer weiter zusammen. Letztlich entschied ich mich dann dazu einfach „Schwarz“ zu parken und kurz ins Hotel zu hüpfen, um die hauseigene Tiefgarage zu erschließen, die sich, wie ich später erfuhr, nur von einer befugten Person öffnen ließ!

Als die Empfangsdame den richtigen Knopf gefunden hatte, konnte es endlich 6 Fuß tiefer gehen. Dann noch kurz die Taschen aus dem Auto gewuchtet und flugs die nächtliche Unterkunft inspiziert, an der Hotelexperte Heinz Horrmann seine Freude gehabt hätte. Das Bad: nichts für Klaustrophobiker! Der Teppich ein einziger Fleck! Und auch die Matratze hatte ihre besten Zeiten hinter sich. Nundenn, Wohlfühlfühlaroma ist sicher anders, besonders wenn aus den Fugen der Nasszelle bereits die Ameisen krabbeln!

Dennoch guten Mutes, hüpfte ich anschließend einmal quer über den Hof des angrenzenden Autohauses, um direkt an der nächsten Station auf die Tram zu warten. Das Wetter spielte mit und neben mir harrten noch andere Treffenbesucher auf die Bimmelbahn ins Abenteuerland. 30 Minuten Geruckel und Gezuckel mit Umsteigehalt am Hauptbahnhof später ist das Ziel erreicht: DIE AGRA! Unschwer zu erkennen an den Horden „anders“ aussehender Menschen. Wobei Schwarz eine dominierende, längst aber nicht mehr die einzige Rolle spielte. Neon Dreads und grelle Farben trafen auf viktorianischen Tüll und mittelalterliche Gewänder. Manch eine(r) erweckte zudem den Eindruck versehentlich in den Schminktopf gefallen zu sein. Vor dem Eingang herrschte bei meiner Ankunft ein unglaubliches Gewusel. Und mittendrin die gierigen Jäger der Fotopresse, lauernd nach nacktem Fleisch. Ein Zoo den es für den Verstand erst einmal zu entheddern galt.

Der nächste Weg führte mich in den Presseclub zur Abholung der obligatorischen Unbedenklichkeitsbescheingung, auch bekannt als Fotoerlaubnis da ich im Gegensatz zu den Kollegen auf der Straße lieber auf Opfer schieße, die sich im Zweifelsfalle nicht wehren können und einem auch ohne gutes Zureden so manch tollen Schnappschuss liefern. Kurzum – ich arbeite lieber mit Profis, als mit Amateuren 😉

Bei noch immer gutem Wetter kehrte ich wenig später in die Wildnis zurück, wo mir, wie inzwischen auf fast jedem Festival mit LAI-Beteiligung umgehend Thomas Rainer mit seiner Gang über den Weg läuft. Dass er dabei meinen Namen mehrfach über den Platz ruft ist mir in Anbetracht der umherstehenden Leute dann doch ein wenig unangenehm und da man hungrige Musiker (auf dem Weg zum Catering) nicht aufhalten soll, belasse ich es vorerst bei einem knappen Gruß in Richtung des gegenüberliegenden Wegesrandes.

Vorbei an der Shisha-Oase des Café Oriental, hin zur Flaniermeile, enststand in mir allmählich der Eindruck, dass einige Besucher heuer einen Frühstart hingelegt hatten. Alle 2-3 Minuten mischte sich von irgendwoher prolliges Gegröle in die friedliche Atmosphäre und verunstaltete das gediegene Treffenflair mit bierseeligem Ballermannaroma. Daher zog es mich vorübergehend ins Agra Café, wo vermutlich gerade wegen der ausbleibenden Remmi Demmi Discodröhnung bereits jetzt einiger Betrieb zu vermelden war.

Da es sich zeitlich nicht mehr lohnte den Weg ins Werk II anzutreten, mussten Leandra und Staubkind heute ohne mich spielen. Was die beiden jedoch verschmerzen konnten, da, wie der Buschfunk später meldete, die Halle eh schon aus allen Nähten platzte. An der Agra stand der Startschuss mit L´Âme Immortelle erst noch bevor. 19:20 Uhr sollte es losgehen. Also blieb noch ein wenig Zeit für ein Wave Gotik-“Treffen“ mit dem Fanclub der Österreicher und Noctulus´ oberösterreichischem Kompagnon Anton, der auf der Suche nach seinem „Chef“ zufällig des Weges gelaufen kam und gleich mal ein paar „G´schichten“ von früher zum besten gab. Wo und wann Noctulus selbst ins Geschehen eingreifen würde sollte sich noch zeigen. Sein für Sonntag angesetzter Auftritt auf der Hauptbüne des WGT war jedoch schon jetzt Dorfgespräch und die Spannung unermesslich, wie viele Leute sich das Schauspiel wohl antun würden bzw. was der Meister der skurrilen Unterhaltung für seinen großen Coup ausheckte. Doch dazu später mehr.

Soeben durch das Einlassgitter geschlüpft (und nicht hängen geblieben), stand ich kurz darauf mit den Voiceless Leuten in einer erschreckend leeren Agra Halle! Bis zum Beginn der Show sollte sie das jedoch noch ändern, sodass die kurzzeitige Hoffnung, nach den obligatorischen drei Songs im Graben noch einen nennenswerten Blick auf die Bühne erhaschen zu können, zugunsten der Band binnen Minuten zu einer traurigen Pfütze schmolz, bis schließlich WGT-Moderator Oliver Klein, die Spiele für eröffnet erklärte.

L´Âme Immortelle

Foto: Elmar "Ritti" Herrmann

Foto: Elmar „Ritti“ Herrmann

Vor letztlich doch noch gut gefülltem Haus, stellten sich die Österreicher seit langem mal wieder der Herausforderung ein Event dieser Größenordnung zu eröffnen. Einerseits natürlich eine Ehre, andererseits aber auch schnell die Arschkarte, wenn das jungfräuliche Publikum nicht mitzieht. Letzteres war leider über weite Strecken der Fall. Was die Band jedoch nicht davon abhielt, trotzdem volles Rohr in die Bresche zu springen. Vor allem Gitarrist Ashley war kaum zu bremsen und sammelte mit Bandchef Thomas emsig Bonusmeilen. Sonja Kraushofer nutzte dagegen die Gunst der Stunde, um mit einem alten WGT-Trauma aufzuräumen und spielte den Opener „Voiceless“ heute mit Blick zum Publikum, während Thomas Sie am frisch gestutzen Rotschopf packte und ringen in die Knie zwang.

Das Set der Österreicher offerierte ein knackiges Best-of Programm, in dem die wichtigsten Stationen der Band vertreten waren. Richtig zünden wollte die Schau trotzdem nicht. Was einerseits daran lag, dass sich bereits zahlreiche Combichrist-Jünger unter das Volk gemischt hatten sowie daran, dass das Publikum auf nüchternen Magen mit der leidenschaftlichen Darbietung der Österreicher überfordert war. Offenbar wird sich die Band damit abfinden müssen, dass ihr abwechslungsreicher Sound nicht jedermanns Sache ist. Vielleicht sollte Thomas Rainer in Zukunft aber auch einfach verstärkt mit Kraftausdrücken um sich werfen und Kunstblut verspritzen, damit der Schlager beim Pöbel zündet. Aber Spaß bei Seite! Für den geneigten Fan boten LAI eine gewohnt souveränen Vorstellung, die neben vielen rockigen auch elektronische Elemente zuließ. Überragend wie immer: Sonja Kraushofers lebendige, stets von einem Schuss Rebellion beseelte Gesangsdarbietung.

„Bitterkeit“ als kleinstem gemeinsamen Nenner zum Dank, schloss sich am Ende der Reigen auf allgemeinverträgliche Weise. Damit konnten sich selbt die Hartwurst Fanatiker noch anfreunden und so gab es zu guter letzt doch noch das Happy End!

Setliste:

  • Voiceless
    Foto: Elmar "Ritti" Herrmann

    Foto: Elmar „Ritti“ Herrmann

  • Fear
  • Stumme Schreie
  • Phönix
  • 1000 Voices
  • Blutrot
  • Aus den Ruinen
  • Life will never be the same again
  • Requiem
  • 5 Jahre
  • Bitterkeit

 

Combichrist

Foto: Elmar "Ritti" Herrmann

Foto: Elmar „Ritti“ Herrmann

Von Österreichern die sich schwer taten, hin zu einem Norweger, dem die Massen zu Füßen liegen. Zumindest im Augenblick! Kaum waren LAI verschwunden, füllte sich die Agra noch einmal zusehends und bestätigte, dass Norweger derzeit nicht nur in der Schlagerwelt hoch im Kurs stehen. Olli Kleins letzter Warnung: „das nächste Ding geht voll auf die Zwölf!“, ließen Andy LaPlegua alias Ole Anders Olsen und seine Bande Taten folgen und fuhren schwere Geschütze auf:

„This Shit will Fuck You Up!“, bellte LaPlegua ins Mikro. Japp hier stimmte die Schimpfwortquote und schon klappte es auch mit der Stimmung. Kaum ballerten die ersten Electro Body Beats aus den Boxen und tigerte der Meister über die Bühne, verwandelte sich die Agra in ein Tollhaus. Direkt hinter dem Wellenbrecher entbrannte dabei ein Party-Gemetzel das muhelos einem mittelalterlichen Schlachtfeld zur Ehre gereicht hätte.“ 50 Minuten Ultra-Brutale mit dem alte rein-raus Spiel. „Wham! Bam! Thank you ma´am!“.

Neben Andy, der zur Abwechslung heute mal als „Anakin Skywalker-Verschnitt nach der vulkanischen Grillparty“ auftrat und sich für die Fans sprichwörtlich den Arsch auf riss, sorgten vor allem die Drummer für spektakuläre Bühnenaction. Was die beiden Herren da trieben stachelte jeden der sie dabei beobachtete nur noch weiter an. Unfassbar mit welcher Power da in die Felle gedroschen und aufs lässigste mit den Instrumenten geposed wurde! Damit allein schossen Combichrist ihren Auftritt bereits in die Flugbahn zum Jupiter. Mehr ging an diesem Abend nicht!

Die Setliste umspannte im dabei die bekanntesten Songs der ersten beiden Alben, sowie frisches Material vom aktuellen Langeisen „Today we are all demons!“. Unter anderem im Köcher: This Shit Will F**k You Up, Last Night I Woke To a Reign Of Blood, Electroheads, Get Your Body Beat, Sent To Destroy, Blut Royal, The Kill V2, What The F**k Is Wrong With You People?

The Eden House

Foto: Elmar "Ritti" Herrmann

Foto: Elmar „Ritti“ Herrmann

Eben noch Rambo-Electro mit musikalischen Explosivpfeilen geballert, schaltete das Programm in der AGRA nun gefühlte 3 Gänge zurück. Kein Aggrotech sondern chilliger mit einem Schuss weiblicher Sinnlichkeit garnierter Gothic-Rock aus England hing in der Pipeline. Symptomatisch für den musikalischen Status Quo der Szene, leerte sich die Halle nun spürbar, sodass der Auftritt von The Eden House anfangs spürbar um Aufmerksamkeit rang. Sehr schade, denn das neue All-Star Projekt um die ehemaligen Fields of the Nephilim Mitstreiter Tony Pettit und Peter Yates lieferte hier mit großem Abstand den musikalischen Höhepunkt des Abends. Neben Violinist Bob Loveday, der schon mit Stars wie Van Morisson auf der Bühne stand, trugen natürlich die beiden zauberhaften Frontelfen Evi Vine und Amandine Ferrari dazu bei, das Feuer zu entzünden und die Seele nach ihrer kalten Elektrodusche zu wärmen.

Wahlweise im Wechsel oder im Duett, schafften es die beiden Damen, die Atmosphäre des im April erschienenen Albums „Smoke and Mirrors“ 1 zu 1 auf die Bühne zu transportieren. Dass es sich bei dem heutigen Live-Auftritt erst um das zweite Konzert in dieser Konstellation handelte, spielte zu keinem Zeitpunkt eine nenneswerte Rolle. Auch gelang es den Sängerinnen vorzüglich das Fehlen von Julianne Regan und Monica Richards zu kompensieren, die als weitere Stimmen leider nicht dabei sein konnten.

Mit seiner Atmosphäre fesselte der Auftritt ungemein. So fiel es dem Publikum leicht, sich in die getragenen Klänge fallen zu lassen und die Welt um sich herum zu vergessen. Umso brutaler wirkte daher das unrühmliche Ende des Auftritts. Gerade noch mit „Sünde“ Amandine geschwoft, riss einen das jähe Ende aus allen Träumen. Obwohl Evi Vine bereits in Position geeilt war, um gemeinsam mit ihrer Kollegin einen letzten Song zu starten, drehte man ihnen knallhart den Hahn ab. „Sorry! Ihr seid über die Zeit!“, hieß es, während ein mauliger Tony Pettit beleidigt von dannen zog und die Damen sich mit der Ankündigungen bald wieder in Deutschland zu sein um gute Mine zum bösen Spiel bemühten.

Ein ebenso unwürdiger, wie unnötiger Abschluss eines tollen Konzerts, dessen Set in groben Zügen die folgenden Songs beinhaltete: The Dark Half, All My Love, God´s Pride, Iron In The Soul, To Believe In Something, Reach Out, Fire For You, Trashed & Treasured, Sin. Unnütz übrigens deshalb, weil das gewohnte Mitternachts-Spezial aus unerfindlichen Gründen entfiel und der nachfolgende Headliner seine Spielzeit gleich um satte 30 Minuten ausdehnte!

Project Pitchfork

Foto: Elmar "Ritti" Herrmann

Foto: Elmar „Ritti“ Herrmann

Knapp 10 Jahre ist es nun her, seit Projekt Pitchfork zum letzten Mal den „Heuhaufen WGT“ auf die Kopf stellten. Im Streit entzweit und von unverschämten Forderungen eines Mitspracherechts an der Setlist vergrault, hatten Peter Spilles und seine Mannen inzwischen Zeit das Kriegsbeil zu begraben und der mitteldeutschen Festispielgesellschaft eine neue Chance für die Liebe zu geben.

Obwohl nicht offiziell angekündigt, hatte sich das Thema „Pitchfork“ als „Überraschungsgast“ beim WGT spätestens nach der Club Attack Tour im April erledigt, nachdem Oberpitchie Peter einigen Fans gegenüber die Katze bereits aus dem Sack gelassen hatte. Dennoch hatten ein paar Tiresische Träumer erst in letzter Minute von dem Paukenschlag Wind bekommen und kotzten sich über die merkwürdige Ankündigungspolitik des WGT aus. Andererseits, wer sich wunderte wieso auf der Agra an jedem zweiten Zaun Pitchfork-Plakete mit eindeutigen Botschaften hingen, dem war vielleicht auch nicht mehr zu helfen.

Ein Großteil der Treffen-Besucher hatte jedoch rechtzeitig auf Empfang geschaltet und wartete nun gespannt auf den großen Auftritt der Pitchies, die mit ihrem musikalischen „Back To The Roots“-Trip derzeit wieder hoch im Kurs stehen. Ganz zu schweigen, dass Project Pitchfork im Osten immer schon eine Macht waren.

Nach der Einstimmung durch eine nett anzusehende Laser Schau nebst grünem Wolkenhimmel, legten die Hamburger mit „If I Could“ vom aktuellen Album „Dream, Tiresias!“ los. Dabei nahm sich Peter Spilles das Publikum direkt zur Brust und legte die Energie frei, die sich in den letzten 10 Jahren angestaut hatte. Obwohl die atomaren Kriegszustände des vorausgegangenen Combichrist-Wutausbruchs kaum zu reproduzieren waren, ging hier einiges! So warf auch die kleine technische Panne bei Drummer Achim die Stimmung nicht aus der Bahn. Zumal Scheubi das Volk mit einem lässig geraunzten: „Na seid ihr noch wach?! Wir auch!“ bei Laune hielt.

Für Aufsehen sorgte auch der Überraschungsauftritt von Myk Jung. „Gebt dem Myk mal ein Mykro“ kalauerte Spilles bevor er gemeinsamen mit dem „Fair Sex“-Frontfussel „Requiem“ anstimmte! Die Chemie zwischen den beiden Akteueren funktionierte hier außerordentlich gut und artete vor lauter Eifer glatt in eine handfeste Rauferei aus. Davon angestachelt ging das Publikum erst recht steil und feierte die Pitchies nach allen Regeln der Kunst.

Wie angedeutet, gönnten sich Project Pitchfork den Luxus einer kompletten Toursets und überzogen die veranschlagte Spielzeit gleich mal um eine knappe halbe Stunde. Schwarz auf Weiss bedeutet das im Einzelnen: Intro, If I Could, God Wrote, Requiem (feat. Myk Jung), Carnival, Nasty Habit, Revolution Now, Human Crossing, Conjure, Carrion, Mine, Alpha Omega, Drone State, K.N.K.A., En Garde, Existence, Darkness, IO, Souls, Timekiller und Rescue. Womit die Songs der NUN-Trilogie, sowie des letzten Albums Kaskade komplett von der Platte flogen! Begeistert hat es trotz oder gerade deswegen! So feierten Project Pitchfork in der Agra ein erfolgreiches, wenn auch nicht wirklich überraschendes WGT-Überraschungscomeback.

Das Noctulus Open Air

Foto: Elmar "Ritti" Herrmann

Foto: Elmar „Ritti“ Herrmann

Auf dem Weg zum Ausgang traf ich dann auf den einzig wahren Helden des WGT, den außerirdischen Blackmetal Komiker vom Stern Andromeda: Noctulus. Der Großmeister der skurrilen Straßenunterhaltung hatte heute sein Zelt („das ist das Ding hinter mir was so aussieht wie ein Haufen“) am versiegten Brunnen vor der Agra-Messehalle aufgeschlagen. Mittlerweile seriös geworden, hatte er sich in ein altmodisches 70er-Jahre Jacket gezwängt und sah damit aus wie ein DDR-Parteifunktionär mit Ritterhelm. Auch die hellbraunen Halbschuhe aus dem Second-Hand Laden wollten so gar nicht zum „dunklen Zauberer“-Look passen und verfehlten gerade deshalb ihre subtlile Trash-Wirkung nicht.

Selbstverständlich ließ das Treffen-Maskottchen keine Gelegenheit aus, um auf für seinen großen Auftritt am Sonntag die Werbetrommel zu rühren. „Ich werde mir mit einer sibirischen Kettensäge mein außerirdisches Holzbein absägen, uauuuu!“ krächzte er vollmundig, schrubbelte ein undefinierbares Solo auf der Gitarre und schlug mit einem Becher in der Hand einen Tusch auf dem beigestellten Becken. Dieser Zyklus wiederholte sich von Zeit zu Zeit und verwandelte sich spätestens beim dritten Mal in einen Running Gag der fortan selbsttätig zündete.

Das zahlreich ausharrende Lauf-Kundschaft liebte es und hing wie gewohnt an den Lippen des kauzigen Barden. Nur ein Pärchen Cyber-Elektros kam, sah ihn und ergriff vor Entsetzen schreiend die Flucht. Das war der Moment in dem selbst der schmerzfreie Noctulus für einen Augenblick um Fassung rang und sich gemeinsam mit der Runde ein Lachen nicht verkneifen konnte.

Übrigens hatte Noctulus an seiner Performance gearbeitet und ein paar neue Tricks gelernt. „Es gibts nichts geileres als seine Gitarre zu vögeln, uauuuu!“, raunzte er während er erneut auf den Saiten herumorgelte. Dann ließ er sich bitten seine „30er Jahre Stasi Gitarre mit Notenschlüssel“ zu entjungfern, bekam eine türkise Decke umgehängt, klemmte sich das Teil zwischen die Beine und gab in Fakir-Manier den einbeinigen Storch, während er wie wild für eine Jimmy Hendrix (S)ex-Perience der dritten Art auf dem Instrument umherfingerte.

Eine gute Stunde lang konnte ich mich nicht von dem bizarren Schauspiel lösen und dabei einer Instant Pogoparty, sowie dutzender noctulanischer Weisheiten beiwohnen, die sich hauptsächlich um Kalbsfleisch, nackte Schweden, Muschis und alle Variationen von Strapsbändern drehten. Zu komisch, zu anarchistisch das Programm und zu groß die Angst etwas zu verpassen von dieser endlosen Kette aus unberechenbaren Improvisationen! In diesem Sinne, ein dreifach donnerndes „Uauuuu!“ – Noctulus rockt! – End of line!

Torsten Volkmer
Torsten Volkmerhttp://www.torsten-volkmer.de
Volkmr, der Gründer des ehemaligen Goth-Zine.de, verdingt sich „selbst und ständig“ als Linsenputzer bei volkmr fotografie ihm seine Knipsklitsche, hat sich als Chefredakteur 2.0 selbst recycelt, die Metalfriese abgeschüttelt und kämpft mit be subjective! erfolgreich gegen hausgemachte Langeweile, Schubladendenken und seine Profilneurose an. Manchmal darf er auch die RedakteurInnen rumfahren oder Wassereis abstauben.

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