Review: Großes Füreinander bei Jamel rockt den Förster (2019)

In einer Zeit, in der rechtes Gedankengut immer weiter in die bürgerlich-politische Mitte rückt, während die Vorstellungen normal fühlender, empathischer und vernunftbegabter Menschen nach links außen gedrängt werden, ist es zunehmend wichtiger, immer wieder öffentlich Stellung zu beziehen. Sowas ist leicht gesagt, lebt man in einer Studentenstadt oder Metropole in seiner eigenen kleinen Blase. Ein Blick in die sozialen Medien oder die Kommentarspalten von Nachrichtenseiten genügt jedoch, um sich die hässliche Fratze von AFD und Anhängerschaft vor Augen zu führen. Kein Beitrag über absolut wichtige Themen wie Seenotrettung oder Flüchtlingshilfe bleibt von hasserfüllten Kommentaren, die sich bis zu Morddrohungen hochschaukeln, befreit. Doch die Unmenschen, die diese Kommentare verfassen, bleiben an ihrem Ende der Tastatur unerreichbar.

Impressionen (Foto: Thea Drexhage bs! 2019)


Wie es ist, zwischen Leuten zu leben, die mit ihrem Hass weit über Internetkommentare hinaus gehen, schildern Birgit und Horst Lohmeyer seit langer Zeit in den großen Medien, wie auch in diesem Jahr bei einer Programmunterbrechung von Joko & Klaas auf dem Sender Pro7. Sie leben in dem kleinen Nazidorf Jamel, zwischen verurteilten Straftätern und NPD Mitgliedern, wo sie Jahr für Jahr auf’s neue ein großes Fest für Offenheit und Toleranz feiern: Jamel rockt den Förster. Dieses finanziert sich lediglich durch Spenden, die Hilfe von zahlreichen Freiwilligen und den ehrenamtlichen Auftritten der KünstlerInnen.
Auch wir dürfen in diesem Jahr wieder mit dabei sein. Beim Befahren des Dorfes hat sich, obwohl wir bereits in Jamel gewesen sind, das mulmige Gefühl nicht verändert. Warum auch? Es hat sich schließlich nichts geändert an der Nachbarschaft. Gegenüber des Forsthofs der Lohmeyers und des Parkplatzes für die Gäste schirmen noch immer zahlreiche Polizisten die Nazis von den Festivalbesucher*innen ab. Auf dem Gelände selbst fühlt man sich hingegen sofort wieder willkommen. Zahlreiche Informationsstände ganz verschiedenster Organisationen wie RESQSHIP, Kein Bock auf Nazis oder der Demokratiebahnhof Anklam sind entlang der, von Bäumen gesäumten, Wege aufgebaut. Damit leistet das Festival, neben der Musik, durch verschiedene Blickwinkel viel Aufklärungsarbeit, auch, wenn davon auszugehen ist, dass die Besucher*Innen eines solchen Events über viele dieser Organisationen bescheid wissen.

Impressionen (Foto: Thea Drexhage bs! 2019)

Das musikalische Line-Up bleibt auch in diesem Jahr so lange geheim, bis sich der Vorhang der jeweiligen Band lüftet. Den Startschuss in diesem Jahr gibt keine Band wie wir sie erwarten würden, sondern ein ganzes Orchester. Unter dem Banner der „Schule ohne Rassismus – Schule für Courage“ zeigen die Schüler*Innen der KGS Dorf Mecklenburg, dass nicht nur Wacken mit einem Blasorchestereinstand gut aussieht.

Susma susdukca sira sana gelecek!

„Susma“ – Arsen
Arsen (Foto: Thea Drexhage bs! 2019)

„Schweige nicht, sonst trifft es dich“ lautet im Anschluss die Botschaft der Berliner Band Arsen, nachdem der Bühnenvorgang das erste Mal fällt. Arsen machen kraftvollen Rock mit Punkeinflüssen. Transportiert werden die starken Texte über Flucht oder das Grauen des Krieges, von der deutsch-türkischen Sängerin Selime Sahin. Bis auf das türkische „Susma“ sind die Texte auf Deutsch, was fast schon schade ist, denn gerade bei besagtem Stück überzeugt die Stimme von Selime noch viel mehr.
Nach dem Auftritt wird der Vorhand wieder hochgezogen und hinter der Bühne beginnen die heimlichen Umbaupausen. Bis auf die Begrüßung durch die Lohmeyers und vereinzelte kleine Ansagen, gibt es auf der großen Bühne kein Programm, dass die Umbaupausen füllt. Dadurch wird den Gästen genug Zeit gegeben, sich mit den Freiwilligen an den Infoständen zu unterhalten. Durch einen Gong wird die nächste Band angekündigt, sodass man keine Angst haben muss, etwas zu verpassen.

Jay Jay and Friends (Foto: Thea Drexhage bs! 2019)
Grossstadtgeflüster (Foto: Thea Drexhage bs! 2019)

Jay Jay & Friends übernehmen im Anschluss. Vielleicht ist der Düsseldorfer Rapper Jay Jay nicht jedem ein Begriff, aber er hat sich mit Trommler Vom Ritchie der Toten Hosen und Fehlfarbengitarrist Thomas Schneider, bekannte Unterstützung eingepackt. Beide Musiker sind keine Fremden in Jamel. Dementsprechend gut wird der Auftritt vom Publikum angenommen.
Doch der Tag ist noch jung und die Spannung auf die Headliner steigt mit jedem weiteren Act. Die Spekulationen reichen von Die Ärzte über Die Broilers bis zu Udo Lindenberg. Aber erstmal gibt’s mit Großstadtgeflüster ‘ne große Party, denn obwohl der Anlass von Jamel rockt den Förster kein schöner und spaßiger ist, geht es bei diesem Festival nicht nur darum, ein klares Statement gegen den Rechtsdruck zu setzen, sondern vor allem für ein friedliches, liebevolles Miteinander und das gute Gefühl, das entsteht, wenn Menschen durch gemeinsame schöne Erlebnisse verbindet, ein Gefühl, welches die Gäste hoffentlich weit über den Gartenzaun der Lohmeyers in die Welt hinaustragen.

Unser Lingo ist der Ausdruck dieses Schmelztiegels
Wir bring’n euch Hip-Hop Sound, in dem sich die Welt spiegelt

„Esperanto“ – Freundeskreis
Max Herre and Friends (Foto: Thea Drexhage bs! 2019)

Für ein Miteinander steht auch Freundeskreismusiker Max Herre, der sich in Jamel die Bühne mit Megaloh, Fatoni und Sugar MMFK teilt. Jeder der Rapper trägt seinen Teil zum Set bei und berichtet über seine ganz eigenen Erfahrungen mit Fremdenfeindlichkeit und Hass. Zwar war das Festival in den letzten Jahren immer stark von Rock und Punkmusik geprägt, dennoch ist das Publikum auch bei Hip-Hop voll dabei – Offenheit und Toleranz reicht hier nämlich auch über musikalische Grenzen hinaus. Es ist ein guter Schachzug der Lohmeyers, das Line-Up geheim zu halten, um die politische Botschaft des Festivals in den Fokus zu setzen. Und sind wir ganz ehrlich: alle Künstler*innen, die sich durch ihren Auftritt beim Forstrock mit den Lohmeyers solidarisieren und sich gegen rechts positionieren, sind gute Künstler. Ein Auftritt in Jamel ist eben nicht nur ein Auftritt, sondern auch ein Statement an die Öffentlichkeit. Dieses Statement setzen aber nicht nur Musiker sondern auch Mecklenburg Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig, welche seit einigen Jahren die Schirmherrschaft des Festivals übernimmt, und DGB Chef Rainer Hoffmann. Gemeinsam überreichten die beiden den Lohmeyers eine Demokratieaktie im Wert von 5000€.

Wir bleiben unbequem, wo die Vergangenheit marschieren geht.

„Willkommen Zuhaus“ – Donots
Donots (Foto: Thea Drexhage bs! 2019)

Musikalisch geht es weiter mit den großartigen Donots, die immer einen Stinkefinger in Richtung Nazis heben und es in Jamel sichtlich genießen, etwas im Wespennest der NPD Anhänger herumzustochern. Die Show der Band ist energiegeladen wie eh und je, doch vor allem der eigens für Jamel geschriebene Song „Willkommen Zuhaus“ macht den Auftritt zu einem ganz besonderen.
Doch das war noch nicht alles. Auf die schweißtreibende Show der Donots folgt noch der starke Auftritt von Samy Deluxe – eine weitere große Überraschung. Denn was die Punkrocker können, kann der Hip-Hop wohl schon lange! Ein gelungener Abschluss für den ersten Tag.

Samy Deluxe (Foto: Thea Drexhage bs! 2019)

Zurück auf dem Parkplatz scheint alles ruhig, die Nazis lassen sich, zumindest bei unserer Abreise nicht blicken, das soll sich jedoch am Samstag ändern. Auch der zweite Tag wartet wieder mit zahlreichen Überraschungen. Die Sonne scheint und eigentlich könnte es nicht schöner sein, doch immer, wenn man kurz den schönen Garten der Lohmeyers verlässt, offenbart sich die hässliche Fratze der Dorfbewohner. Ein Panzer aus Strohballen wurde von den Nazinachbarn errichtet, zeigt witzigerweise auf die eigene „Grillparty gegen Links“ zeigte – nicht, dass wir etwas dagegen hätten. Je später der Abend, desto mehr Nazis sammelten sich auf dem abstrakten Gebilde, nach außen hin wahrscheinlich, um die Lage zu überwachen, doch wir sind uns sicher, dass sie nur gratis richtig gute Musik hören wollten. Davon gibt es reichlich.

Strom und Wasser (Foto: Thea Drexhage bs! 2019)

Als erstes steht der Künstler Heinz Ratz mit seinem spannenden Projekt Strom & Wasser auf der Bühne und überzeugt mit starkem politischen Liedermaching, von dem es an diesem Wochenende ruhig noch etwas mehr hätte geben dürfen.
Tolles Liedermaching kann auch Antje Schomaker, nur eben weniger politisch und mit einer erfrischenden Leichtigkeit.

Antje Schomaker (Foto: Thea Drexhage bs! 2019)
Tequila and the Sunrise Gang (Foto: Thea Drexhage bs! 2019)

Es folgen alte Bekannte: Tequila and the Sunrise Gang sind schon lang nicht mehr aus dem Line-Up wegzudenken, dementsprechend groß die Begeisterung der Gäste beim Lüften des Vorhangs. Aber nicht nur auf der Bühne gibt es viel zu sehen, auch im Publikum tut sich was. Im Laufe des Festivals wurden am Stand der IG Metall Jugend Wismar/Lübeck und Respekt! Kein Platz für Rassismus fleißig an kleinen Bannern mit individuellen Botschaften der Besucher*Innen gebastelt, welche alle zusammengenäht ein unfassbar riesiges Banner ergaben, welche Teil eines langfristigen Projekts wurden, um das riesigste antirassistische Banner der Welt zu erstellen. Dieses reichte über das gesamte Festivalgelände, hoffentlich bis in die Sichtweite der Nachbarn.

Mia (Foto: Thea Drexhage bs! 2019)

Mit MIA steht im Anschluss ein weiterer riesiger deutscher Act auf der Bühne und es wird immer spannender, wer an diesem Abend den Sack zumachen wird. Die Show von Mia ist bunt, gespickt von zahlreichen Kostümwechseln. Die Energie von Sängerin Mieze überträgt sich wahrscheinlich auf jeden einzelnen Gast. Wem das alles doch zu quietschig bunt ist, kommt im Anschluss mit Thees Uhlmann und seiner fantastischen neuen Band voll auf seine Kosten. Fünf Jahre hat er nicht gesungen und stellt damit wohl die Überraschung des Abends dar.

Impressionen (Foto: Thea Drexhage bs! 2019)

Hier komm ich her, Hier bin ich geboren!

„Lat: 53.7 Lon: 9.11667“ – Thees Uhlmann
Thees Uhlmann (Foto: Thea Drexhage bs! 2019)

Thees Uhlmanns Texte sind nicht politisch, sie handeln vom Alltag und den kleinen Dingen, wie seiner Heimat Hemmoor. Eine Gegend, die dem Norden Mecklenburg Vorpommerns nicht unähnlich nicht, sodass Texte wie der von „Lat: 53.7 Lon: 9.11667“, was ich als Exilmecklenburgerin die mittlerweile in Friesland lebt durchaus behaupten kann (Anm.d.R). Und eben diese schönen ländlichen, verschlafenen Flecken abseits der großen, multikulturellen Gegenden dürfen wir eben nicht unbeachtet den Nazis überlassen. Genau daran arbeiten seit vielen Jahren Feine Sahne Fischfilet, überraschender, aber eben auch nicht überraschender, Headliner des Abends.

Wasted in Jamel!

Feine Sahne Fischfilet (Foto: Thea Drexhage bs! 2019)

Lange hat es gedauert, bis die Band ihren Weg auf die Bühne nach Jamel gefunden hat. Komisch, stehen sie doch dafür, dass MV noch nicht komplett im Arsch ist. Aber besser spät als nie, denn egal wo die Band spielt, die Nazis sind nicht weit, um sich zu beschweren. FSFF im eigenen Dorf. Das muss richtig weh tun. Und das ist richtig gut so! So gut, dass sich Birgit Lohmeyer zusammen mit Monchi das erste Mal im Crowdsurfen versucht und dabei über das ganze Gelände getragen wird. Ein schönes, abschließendes Symbol für die Unterstützung, die die Lohmeyers an diesem Wochenende von außen erfahren durften.

Impressionen (Foto: Thea Drexhage bs! 2019)

Galerien (by Thea Drexhage bs! 2019)

Links:
Jamel rockt den Förster
RESQSHIP
IG Metall Jugend Wismar/Lübeck
Respekt! Kein Platz für Rassismus
Kein Bock auf Nazis
Demokratiebahnhof Anklam
Schule ohne Rassismus

Thea Drexhage
Thea Drexhagehttps://www.be-subjective.de
Thea Drexhage hat Salma Hayek einiges voraus! 10 mm. Wie die meisten Frauen der Redaktion, Duffy, Beth Ditto, Joan Rivers oder Angus Young kann sie die MusikerInnen aus dem Bühnengraben also völlig problemlos sehen, wenn jemand ihren Hocker trägt, wird aber - das hat sie mit Salma dann doch wieder gemein - dennoch viel zu oft auf Ihre Körpergröße, ihre Mähne und ihre leicht misanthropischen Anflüge reduziert. Damit sie also nicht im nächstbesten Titty Twister von Sonnenunter- bis Sonnenaufgang Menschenmengen und Bläser mätzelt, halten wir “Aggro-Thea”, die zuvor ganze Landstriche in Mecklenburg Vorpommern ausgerottet hat, halbtags im spießbürgerlichen Oldenburger Exil an der langen Leine. Seither legt sich die scheißpünktliche existentialistische Besserwisserin analog mit Sartre, Camus & Kodak an und ja, auch wir müssen neidlos zugestehen, dass der Instagram-Account ihrer beiden Katzen “Salma” und “Hayek” mehr Follower pro Tag hat, als unser webzine im ganzen Jahr.

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