Review: Nicht mehr so neu in der Hamburger Schule – Tocotronic (21.08.2021, Lingen)

28 Jahre später und Tocotronic möchten noch immer Teil einer Jugendbewegung sein. Dieses Schlüsselstück der Hamburger Schule wurde gemeinsam mit vielen vielen weiteren Titel der tocotronischen Hamburg Years über den Open-Air Platz vor der Emsland Arena posaunt. Tocotronic sind an einem Punkt ihrer Karriere angekommen, an dem es sich lohnt einmal zurückzuschauen zu den Anfängen. Diese waren laut, schrill und ungebändigt. So wird das Konzert in Lingen eröffnet vom Publikumsliebling „Freiburg“, den es normalerweise als letzte Zugabe geben würde.

Tocotronic (Foto: Thea Drexhage bs! 2021)

„ich weiß nicht, wieso ich euch so hasse, Fahrradfahrer dieser Stadt“

„Freiburg“-Tocotronic
Tocotronic (Foto: Thea Drexhage bs! 2021)

Brüllt ein gut aufgelegter Dirk von Lowtzow in das Mikrofon. Es geht chronologisch durch die Diskographie der Band. Dabei gibt es Songs zu hören, die schon einige Jahre kein Bühnenlicht mehr erblicken durften, wie das schroffe „Michael Ende, du hast mein Leben zerstört“  oder „Ich verabscheue euch wegen eurer Kleinkunst zutiefst“. Man merkt, dass diese Art der Showgestaltung zahlreiche Fans erster Stunde nach Lingen gezogen hat. Begeistertes Mitgröhlen, tanzen, so gut es am eigenen Platz eben geht und biergetränkte Enttäuschungsäußerungen, dann, wenn die alten Lieblingsstücke es doch nicht in die Setlist geschafft haben.

Es ist ein bittersüßer Abend. Die Band ist in bester Form. Die Setlist wunderbar nostalgisch. Das Wetter spielt hervorragend mit, aber es ist eben auch ein weiteres Sitzkonzert. Und wenn die Leute die Chance haben zu sitzen, dann nutzen sie die auch. Nur wenige reißt es von den Stühlen, um die alten Stücke so zu feiern, wie sie es verdienen. Genau genommen gehören diese Shows in kleine, dunkle Clubs mit überwiegend miesem Sound. Zumindest bei letzterem Punkt kann Lingen aber Punkten, denn der Sound an diesem Abend ist viel zu dumpf. Höhen werden verschluckt. Stattdessen wummern die Bässe, was das Erlebnis etwas schmälert. Gerade bei bombastischen Werken wie dem scheinbar endlosen „Das Geschenk“ wünscht man sich doch, etwas mehr verstehen zu können.

Dennoch ist der Abend eine lange Zelebration der Hamburger Jahre. Spätestens ab der ersten Zugabe reißt es dann auch die große Masse von den Stühlen. Es folgt Hit auf Hit. „This Boy is Tocotronic“, „Hi Freaks“ und “Neues vom Trickser”. Kaum Verlässt die Band die Bühne warden die Schreie nach einer Zugabe laut. Es folgen „Letztes Jahr im Sommer“ und mit „Hoffnung“ das einzige neue Stück, geschrieben in der Corona-Kriese.

„Aus jedem Ton spricht eine Hoffnung
Transformation aus jedem Klang
Aus jedem Ton, spricht eine Hoffnung
Auf einen Neuanfang“

„Hoffnung“ – Tocotronic
Tocotronic (Foto: Thea Drexhage bs! 2021)

Galerien (by Thea Drexhage bs! 2021):

Setlist:

  1. Freiburg         
  2. Digital ist besser
  3. Die Idee ist gut, aber die Welt noch nicht bereit
  4. Drüben auf dem Hügel
  5. Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein
  6. Du bist ganz schön bedient
  7. Michael Ende, du hast mein Leben zerstört
  8. Die Welt kann mich nicht mehr verstehen
  9. Ich verabscheue euch wegen eurer Kleinkunst zutiefst
  10. Nach Bahrenfeld im Bus
  11. Sie wollen uns erzählen
  12. Ich bin viel zu lange mit euch mitgegangen
  13. Let there be rock
  14. Die neue Seltsamkeit
  15. Jackpot
  16. Die Grenzen des guten Geschmacks
  17. Jenseits des Kanals
  18. Das Geschenk
  19. This Boy Is Tocotronic
  20. Hi Freaks
  21. Neues vom Trickser
  22. Hoffnung
  23. Letztes Jahr im Sommer

Links:

Tocotronic

Thea Drexhage
Thea Drexhagehttps://www.be-subjective.de
Thea Drexhage hat Salma Hayek einiges voraus! 10 mm. Wie die meisten Frauen der Redaktion, Duffy, Beth Ditto, Joan Rivers oder Angus Young kann sie die MusikerInnen aus dem Bühnengraben also völlig problemlos sehen, wenn jemand ihren Hocker trägt, wird aber - das hat sie mit Salma dann doch wieder gemein - dennoch viel zu oft auf Ihre Körpergröße, ihre Mähne und ihre leicht misanthropischen Anflüge reduziert. Damit sie also nicht im nächstbesten Titty Twister von Sonnenunter- bis Sonnenaufgang Menschenmengen und Bläser mätzelt, halten wir “Aggro-Thea”, die zuvor ganze Landstriche in Mecklenburg Vorpommern ausgerottet hat, halbtags im spießbürgerlichen Oldenburger Exil an der langen Leine. Seither legt sich die scheißpünktliche existentialistische Besserwisserin analog mit Sartre, Camus & Kodak an und ja, auch wir müssen neidlos zugestehen, dass der Instagram-Account ihrer beiden Katzen “Salma” und “Hayek” mehr Follower pro Tag hat, als unser webzine im ganzen Jahr.

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