Most Wanted 2020: Daphnes musikalischer Jahresrückblick.

Hui 2020. Das war deep. Wie ein so vielversprechender Start mit Touren quer durch Deutschland, angekündigte und angemunkelte Albumreleases wie mit einem Aufprall auf eine Mauer aus voller Fahrt gerissen wird. Während an einem Wochenende noch Konzerte mit bis zu tausend Zuschauenden stattfinden durften, bangt man nur ein paar Tage später bei Soundcheck und parallel stattfindender Pressekonferenz der Regierung, ob das Sitzkonzert vor 200 Leuten am selben Abend noch kurzfristig abgesagt werden muss. Musste es nicht, war aber auch 2020 mein letztes Konzert ohne Hygienekonzept, Masken und dem festen Vertrauen auf die Verlässlichkeit des Konzertkalenders. Das Ende der Konzerte allgemein war es zum Glück nicht, wenn auch das Ende des sorglosen Bewegens in Menschenmassen. Überflutet von Streamingangeboten plötzlich eine richtige echte Ankündigung: Matze Rossi in Kassel. Abstandsitzen, Kontaktverfolgung, Open Air. Der Start in eine neue Hoffnung. 

1. Mein Album des Jahres:

I guess if I ever get out of this mess,
I might be able to leave the monsters behind.
I’ll kick them out.
But until then, not now but later on,
All the time when they still aren’t gone
I’m going to fight for me, fight for you, fight for us.

Eine Baseline bereitet den Teppich für Jenny Apelmo. Bekannt als Bassistin bei Felicia Försvann, die Frontfrau von Jenobi jetzt mutiger als jemals zuvor. Solo im Studio, zu viert auf der Bühne. Endlich ein Gefühl von komplett. Endlich ein physischer Beweis des Gefühls der ersten Auftritte. Endlich der lang erwartete Schritt nach vorne. Patterns heißt das Debut und ist weit facettenreicher als das schwarz-weiße Cover. 10 Songs, 10 Sounds. Oberflächlich minimalistisch offenbart doch erst die aufmerksame Beschäftigung mit Lyrics, Sounds und Biographie die tiefliegenden Muster. Herrlich entspannt und dazu noch tanzbar. Mach das mal jemand nach!

Jenny Apelmo (Foto: Daphne Dlugai bs! 2020)

2. Der beste Stream: 

I need reminders of the love I have
I need reminders good or bad
I tilt my chin up in photographs
A subtle way to reinvent the past 

Touchè Amorè (Foto: Deathwish Inc.)

Wenn es Lament von Touché Amoré schon nur ganz knapp hinter Jenobi aufs Album-des-Jahres-Treppchen geschafft haben, so darf wenigstes die synapsenxplosionsartige Mindfuckstreaminveranstaltung der Albumreleaseshow in dieser Aufzählung nicht fehlen. Dank der Zeitverschiebung Kalifornien – Deutschland wird dann halt auch mal im Schlafanzug zu unchristlichen Nachtzeiten das heimische Wohnzimmer zum Solo-Moshpit. Nachzugucken (oder wiederzugucken) ist das Konzert auf YouTube.

3. Mein Konzert des Jahres:

Doch harte Zeiten werden kommen
Und harte Zeiten werden gehen.

Thees Uhlmann: Thea Drexhage bs! 2020

Da kommt einer nach 5 Jahren Bühneabstinez wieder, haut ein hammer Album raus, tourt mit Megaband und Bläsern Anfang 2020 (erneut) durch die Republik und beendet gerade so (perfektes Timing) alle geplanten Termine. Dann Corona, Shutdown (oder Lockdown oder wie auch immer es genannt wird), Stillstand. Wirklich ein Stillstand oder nur durchatmen für den neuen Anlauf? Zaghafte erste Termine sind nur Vorreiter für einen besonderen Toursommer. Open Air von der Küste bis an die Berge und dann die Zusage: Thees Uhlmann in der Weltstadt Rietberg-Mastholte (Kurze Orientierung: irgendwo auf dem platten Land neben Tonnies), Ausverkauft in unter 24 Stunden, ein danke für die Angst Trio, ein Sonnenuntergang am See in den schillerndsten Farben, eine Gitarristin, die das Touren so sehr vermisst, dass sie freiwillig am Merchandise aushilft. Familiärer Hygiene- und Respektabstand, Sprühpfeile und Schlange stehen vorm Eiswagen. Passiert das hier gerade wirklich? Und wurde eigentlich der Sonnenuntergang schon erwähnt?

Der Ausblick:

Lasst uns aus dem Jahr 2020 lernen. Lasst uns gemeinsam stark sein gegen ein Virus, dass nur in Zusammenarbeit zu bekämpfen ist. Lasst uns die Umwelt nicht aus dem Blick verlieren, Brände und Erdbeben sind nur Warnungen vor den Folgen unseres Raubbaus an der Welt. Lasst uns solidarisch sein mit Unterdrückten und Diskriminierten. Lasst uns die Branchen in den Fokus rücken, die viel zu lange unbeachtet blieben. Und vor allem: Lasst uns uns klar positionieren gegen Rassismus und Faschismus. 

Lasst uns aus dem Konzertsommer 2020 lernen. Lasst uns den Mut zur Umsetzung des schier Unmöglichen nicht verlieren. Lasst uns die Kreativität weiter ausbauen, auch ungewöhnliche Ideen umzusetzen. Lasst uns neu erschlossene Locations weiter betreiben und Kooperationen festigen. Lasst uns die Kulturbranche weiter unterstützen. Und vor allem: Lasst uns die Lust an Konzerten nicht verlieren.

Ich persönlich freue mich auf einen (hoffentlich) erneuten Sommer am See am Mastolter See, hoffe auf das Stattfinden diverser (mittlerweile mehrfach) verschobener Konzerte und freue mich auf die zahlreichen Begegnungen mit Menschen der Musikszene, die jede Veranstaltung erst komplettieren. Nach über einem Jahr kann ich ein Konzert im Stehen kaum mehr abwarten (und wenn ich nur auf einem Stern am Boden tanzen darf).

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Daphne Dlugai
Daphne Dlugai. Eine lebendige Mindmap aus einem Kessel Buntes, läuft wie ein Duracellhäschen, wenn man Kaffee, kaffee, kaffee (hier als Nomen, Verb und Adjektiv verwendet) in ihr System kippt. Oder Schokolade. Im Herzen eine Disneyprinzessin (definitiv Mulan, die anderen sind zu girly),  im echten Leben Teilzeitcholerikerin, audiophil Vinyladdicted und ist Daphne ein bisschen sonderbar. Oder war es Sonderpädagogin? Wir wissen es nicht so genau. Man munkelt sie ist wegen Schokolade auf Bewehrung und versucht diese Schwäche mit Bastelkram zu kompensieren. Funzt! Alles ist schöner mit Kerzen! Sogar Kerzen.