In Liebe, Freiheit, Sturm
Blitze zucken schon über den Himmel, als der Countdown beginnt. Die Fans wissen: Er kommt. Ein Blick nach oben verrät: Da kommt noch etwas anderes auf uns zu. „Feuer für das Licht der Stadt“, singt der Graf in seinem ersten Song „Herzwerk“. Passt. Die Fans von Unheilig sind an diesem Juli-Freitag auf Hannovers Expo- Plaza gekommen, Freiluftkonzert. Sie stehen im heißen Wind, auf der Bühne flackern Kerzen. Der Graf läuft auf die Bühne, als wolle er alle 14.000 Menschen gleichzeitig umarmen.
Es ist zu früh. Eigentlich sollte Pop-Poet Andreas Bourani um 19.30 Uhr die erste Vorband Staubkind ablösen. Doch die Organisatoren entschieden nach einem Blick auf das Wetterradar, dass Unheilig eher auf die Bühne soll. Eine Fehlentscheidung. „Sag mir, bist du stolz auf mich?“ Der Bundesvision-Songcontest-Hit von 2010 „Unter deiner Flagge“ begeistert die Fans immer noch. Die Fans singen. Und am Himmel wird es heftig.
# Wo sind die goldenen Zeiten?
Spätestens seit „Geboren um zu leben“ ist Unheilig massentauglich. Die alten Fans sind trotzdem gekommen, man muss sie nur etwas suchen. Sie kennzeichnen sich etwa durch bunte Stern-Tattoos am Hals, wie Justine. Sie hat vor dem Regen Schutz gesucht, steht nun unter dem Vordach eines Bierwagens. Jedes Wort singt sie mit. „Sag mir wo sind die goldenen Zeiten; sag mir wo wie und wann waren sie vorbei?“ Hat er sich verändert? „Ist gut so.“
# …diese Flut zu überstehen
„Oh, große Freiheit, ich hab mich nach dir gesehnt“, singt der Graf. Nur die Freiheit verleiht jene Urkraft, mit der wir jede Flut überstehen, sagt er uns. Weit hinter den Fans spiegeln sich die Lichter im Wasser, unterbrochen von nassen Füßen in Flipflops und gelegentlichen Blitzen. Es werden mehr. Freiheit? Frei ist es, im Regen zu stehen. Der Graf macht es vor, seine Fans machen mit. Die Ordnungshüter nicht. Kurz vor acht ist vorläufig Schluss. Der Graf bittet die Fans, sich Schutz vor dem Regen zu suchen. Und dann ist Chaos. Viele wollen Schutz suchen, viele wollen bleiben, wo sie sind.
Es ist ein gemischtes Publikum. Hans-Jürgen Fisseler ist mit seiner Frau gekommen, 120 Kilometer sind sie gefahren, von Northeim aus. Seine Frau ist der Fan, „ich bin Fahrer und Regenschirmhalter“. Und? „Die Bühne ist gewaltig, die Atmosphäre ist toll.“ Eine große, fröhliche Masse. Fisseler ist 64 Jahre alt, im Dezember wird er 65. Wer älter ist als 65, zahlt heute keinen Eintritt, Kinder im Alter von sechs bis zehn Jahren auch nicht. Ein Geschenk an die Fans, mehr als 700 nutzen es. „Rentner haben oft nicht so viel Geld“, sagt Fisseler. Das Konzert des Mannes, den die Wikipedia mit „Pop, Electro-Rock und Neue Deutsche Härte“ beschreibt, ist ein großes Fest mit gemischtem Publikum. Ein nasses Fest, aber nur heute.
# Dann erstrahlt die Welt in neuem Licht
Wir kommen zu dem Schluss: Nass kann man nicht steigern, nass ist nass. Regencapes? Oh, Bitte. Nein. So lassen wir uns am Würstchen-Stand räuchern, trinken Bier, reden. Und beobachten die bunten (zugegeben: meist schwarzen) Regenschirme vor der Bühne. Durchhalten. „1:1 Rammstein“, kommentiert Dustin Stobernack den Song „Feuerengel“. Ihn hatte er vor drei Jahren zuerst gehört; sein Vater Thorsten hatte ihn auf Unheilig gebracht. Zu kommerziell? „Eigentlich nicht. Aber interessant, früher war es Hardrock, jetzt softer“, sagt der Stöckener. Die Alben sind durchwachsen, das Konzert auch. Aber im positiven Sinne. Die Setlist passt, wir werden ohne große Schocks durch das Konzert getragen.
Raffaela Vogel kennt Unheilig von Anfang an. Damals besuchte sie ein Konzert mit 120 Gästen, heute kommen hundert auf jeden Gast von damals. 20.43 Uhr. Es geht weiter. Wir sind nass, das sind jene, die Schutz gesucht hatten, aber auch. Vielleicht riechen sie besser, das prüfen wir nicht. „Dann erstrahlt die Welt in neuem Licht“, singt der Graf. Nachtschicht. Stimmt. Es sieht fast trocken aus.
Jetzt haben wir die gewonnene Stunde fast wieder draußen. Was soll’s. Einige sind gegangen, viele sind geblieben. „Am Horizont der Stadt beginnt das Tagwerk der Nacht.“ Und dann: „Feuerland“. Es wird laut. „Das ist total Rammstein!“ Keine Ahnung, wer das gesagt hat, es schallte zu uns herüber. „Ich schaue oft zum Himmel auf und breche in die Freiheit aus“, singt der Graf. Da sind wir sofort dabei, der Song reißt mit. „Unsterblich“ singt der Graf, ganz treffend: „Jeder Wunsch, der sich in mir nach Erfüllung sehnt, wird geflutet, mit allem was du gibst. Die Zeit fliegt, viel zu schnell an uns vorbei. Ich halte dich, ich will nie mehr alleine sein.“ Sehnsucht, Liebe. Und noch einmal Flut. Am Himmel bricht wieder Regen aus. Das ist jetzt auch schon egal.