Review: Gehen Sie bitte weiter, es gibt hier „nichts“ zu hören – Fjørt live (27.01.2023, Hannover)

Es ist zu einer Unsitte geworden. Wenn irgendwo, irgendwas, irgendjemandem passiert, dann wird sofort das Handy gezückt, um es aufzunehmen und online zu stellen. Und wenn dann ganz viele Menschen so sensationsgeil sind und dadurch verhindern, dass zum Beispiel Rettungskräfte ihre Arbeit machen können, ist das asozial. Das Ganze muss dann mal wieder durch Ordnungskräfte abgesichert werden, die die Leute „vertreiben“ müssen: „Gehen Sie bitte weiter, es gibt hier nichts zu sehen“.

An diesem Abend könnte auch ein Ordner vor der Tür des Musikzentrums stehen, der dann ruft: „Gehen Sie bitte weiter, es gibt hier „nichts“ zu hören“. Die Fans jubeln. Wie jetzt? Ach so, na gut, dann hereinspaziert, aber nur wer eine Karte hat. 400 Fans haben das Musikzentrum ausverkauft gemacht. Warum? Weil sie „nichts“ hören wollen. Verrückte Welt.

Etwas crazy ist auch die 26-Jährige Maxi Haug. „Mein richtiger Name hat echt keinen schönen Klang. Früher habe ich immer gesagt, dass ich mich Shitney Beers nenne, weil ich scheiße bin und gerne Bier trinke. Jetzt trinke ich kein Bier mehr.“ Frau Beers hat auch eine neue Scheibe rausgebracht die „This is Pop“ heißt und durchaus positive Kritiken eingeheimst hat. Zum Pop sagt sie: „Zugegebenermaßen weiß ich echt nicht, was Pop ist. Ist es ein Genre, eine Bewegung, ein Trend? Um ehrlich zu sein, weiß ich auch nicht genau, welches Genre ich bediene. Im Endeffekt ist es egal. Das Wichtigste ist, dass ich mir selbst treu bleibe.“ Endlich mal eine Künstlerin, die sich selbst nicht so ernst nimmt?! Ein Beispiel? „Movements“ scheint ein melancholisches Liebeslied zu sein, aber eigentlich geht es um Laktoseintoleranz und was dann dabei so rauskommt, auf Englisch heißt das dann „bowel movements“. Musik liegt in der Luft, ein ganz besonderer Duft. Die Hamburgerin hat den Schalk im Nacken. Gut so, weiter so. Bloß nicht verbiegen lassen.

An dem Platz wo die Rosen stehen
Wird geschossen auf drei MenschenDie es anders sehen
Die das Maul nicht halten können
Weil es sonst jeder tut

Bei der Aachener Band Fjørt dachten viel Fans schon, da kommt nichts mehr. Ende, Aus, Finito. Und dann haben FJØRT tatsächlich am 11.11.2022 (kein Karnevalsscherz) „nichts“ rausgebracht. Großartige Texte treffen auf wuchtige, brachiale Mucke. Das 50-Minuten Album hält der Gesellschaft den Spiegel vor. Gnadenlos, bedingungslos mit ganz viel Gefühlen, aber nicht die schönen wie Liebe, Herz und Schmerz sondern Ärger, Wut und Verzweiflung. Noch mehr gefällig? Auch Gier und Leid werden thematisiert. Immer mehr, mehr, mehr und das natürlich auf Kosten anderer.

Fjørt (Foto: Michael Lange bs! 2023)
Fjørt (Foto: Michael Lange bs! 2023)

Chris Hell (Gesang, Gitarre), David Frings (E-Bass, Gesang) und Drummer Frank Schophaus sind bereits seit 2012 unverändert zusammen und in diesem Jahr auf ihrer „nichts hat mehr bestand“-Tour, die weitestgehend ausverkauft ist. So brachial ihr Hard-Core und Postrock auch ist, die Band gehört wohl zu den freundlichsten ihrer Zunft. „Wenn hier gleich die Post abgeht, achtet aufeinander, habt Respekt“. Der Moshpit klappt wunderbar. Aufmerksame Crew-Mitglieder achten auf jeden Stage-Diver der von der Bühne ablegt und hier wieder anlandet. Dann sind sogar zwei Diver unterwegs, die sich im Publikum treffen. Der Dialog könnte so sein: „Na hast du Spaß? „Na sicher, Alter. Bestes Diving ever. Hier werden die Fans auf Händen getragen“.

Die Songs haben oft ein Intro, das nicht vermuten lässt, das hier gleich ein Vulkan ausbricht. Aber das ist defintiv dramaturgisch so gewollt. Die Pausen zwischen den Songs werden nicht nur für Ansagen, sondern, oft zum Neustimmen der Gitarren genutzt. Normal, wer so los ballert wie die Rheinländer.

Frings und Hell teilen sich den Gesang, wobei der Bassist mehr der Shouter ist und dies auch zusammen mit dem Publikum auslebt. „Valhalla“ hat sogar ein Piano-Outro, was zunächst etwas verstörend aber gerade deswegen auch so gewollt ist. In der Zugabe gibts noch mal richtig was auf die Ohren mit „ Sfspc“, es brennt „Lichterloh“ und dann heißt es auch schon „Lebewohl“. Blöd, wer bei diesem Konzert nicht dabei war. Er hat “nichts“ verpasst.

Fjørt (Foto: Michael Lange bs! 2023)

Galerien (by Michael Lange bs! 2023):

Setlist Shitney Beers:

  1. Time
  2. Peaches Style
  3. Long Distance
  4. Movements
  5. Hun so Low
  6. La mort heureuse
  7. Nourie Hadig
Fjørt (Foto: Michael Lange bs! 2023)

Setlist Fjørt:

  1. Schrot
  2. Südwärts
  3. Anthrazit
  4. Magnifique
  5. kolt
  6. Paroli
  7. Lod
  8. Bonheur
  9. Fernost
  10. Windschief
  11. Mitnichten
  12. Couleur
  13. Valhalla (ending with the piano outro… more )
  14. Sfspc
  15. Lichterloh
  16. Lebewohl

Links:
www.fjort.de

Michael Lange
Michael Langehttps://www.be-subjective.de
Michael Lange. MichaL ist der Methusalix in unserem Team. Ein Original, ein Sympath, ein Genießer von A wie Abba bis Z wie Zabba und im realen Leben ein Stepptänzer. »Jawohl, das mit dem KlackerdiKlack.« MichaL hat schon Rock’n’Roll gehört, da waren die Little Boy Blue and the Blue Boys noch grün hinter den Ohren. Man munkelt er konnte schon einparken, da gab es noch nicht mal Rückspiegel, geschweige denn Einparkhilfen. Dennoch ist die MichaL noch lange kein Oldy oder darauf fokussiert. The big L war plötzlich da. Zeitlos. Unerwartet und doch völlig freiwillig tauchte er in unserem Universum auf und bereichert es. KlackerdiKlack.

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