Review: Bis bald, Kettcar! (31.01.2020, Bremen)

Kürzlich vermeldeten Kettcar, eine Pause auf unbestimmte Zeit einlegen zu wollen, natürlich nicht, ohne sich mit einer letzten Tour durch große Hallen von ihren Fans zu verabschieden, mit dem Versprechen, im Anschluss wie die Schweine an neuem Material zu Arbeiten. Die Prämisse: Eine Rückkehr wird es nur dann geben, wenn die Band das Gefühl hat, das letzte Album „Ich vs. Wir“ übertreffen zu können und nicht zu einer dieser Bands zu werden, die live immer und immer wieder die alten Hits aufwärmen. Ein nobles Vorhaben. Und ein Schwieriges.

Warum?

Kettcar (Foto: Thea Drexhage bs! 2020)

Mit „Ich vs. Wir“ wurden Kettcar politisch – ok, politische, deutschsprachige Bands gibt es zu Hauf, gerade bei der aktuellen Lage, doch bei Kettcar war das noch einmal etwas anderes. Die Hamburger Indie-Rocker haben zuvor mit ihrer Musik eine breite Masse an Menschen bedient, was man noch heute im Publikum sehen kann. Es ist die breite, bürgerliche Mitte und nicht, wie bei etablierten Punkbands ein eingefleischtes Publikum aus dem links-grünen Lager. Das bedeutet, dass die aktuellen Songs von Kettcar auch außerhalb der Gutmenschenfilterblase auf neue, eventuell politisch unschlüssige Ohren trafen und sicher einige Hörer*innen positiv beeinflusst haben. Und genau das ist es, was wir in der Musik brauchen.  Mehr Mut zur Meinung. In diesem Sinne hoffen wir inständig, dass Kettcars vorhaben, neues, noch stärkeres Material zu erschaffen, gelingt. Aber nun zum Konzert.

Und selbst wenn ich’s kannte behielt ich dein Geheimnis für mich
Ich würd‘ dir helfen eine Leiche zu verscharren, wenn’s nicht meine ist

Niels Frevert (Foto: Thea Drexhage bs! 2020)


Das Pier 2 ist voll bis auf die billigen Plätze. Die Show eröffnet Niels Frevert, der Ende letzten Jahres nach einer 5-jährigen sein aktuelles Album „Putzlicht“ veröffentlicht hat. Die vorderen Reihen sind hin und weg von Freverts Stimme, dem super Klang und der Band, die den Liedermacher begleitet. Auf den billigen Plätzen jedoch schafft es das Publikum mal wieder nicht, den Sabbel zu halten und versaut sich somit selbst die Chance, Freverts außergewöhnlich guten Texten zu lauschen. Manchmal scheint es egal zu sein, wie hochkarätig der Support Act einer Band ist, die Massen wollen nur sehen, für wen sie in erster Linie bezahlt haben. Aber die vorderen Reihen, die sind begeistert über neue Stücke und alte Nummern wie „Seltsam öffne mich“ das die meisten begeisterten Reaktionen in der Menge erzeugt. Über 40 Minuten räumen Kettcar für Frevert ein, bevor die Bühne umgebaut wird.

Niels Frevert (Foto: Thea Drexhage bs! 2020)

Bereit für das Adrenalin und die Angst,
Bereit für die Volle, für die ganze Distanz.

Kettcar (Foto: Thea Drexhage bs! 2020)

Ruhig ist die Begrüßung, das Publikum kennt jedes Wort. Ein kurzes Aufwärmen und dann geht es los, mit Pauken und Trompeten. Kettcar haben Bläser dabei, dazu dicke LED Leinwände und vor allem Spielfreude, davon nicht zu wenig. Aber eben auch etwas Wehmut. Hier stehen sie nun, in Ungewissheit kurz vor der Pause auf unbestimmte Zeit, nach all diesen Touren und Terminen. „Werden bestimmt eh nur 3 Monate durchhalten“, scherzt Wiebusch. Wünschenswert. 21 Songs haben Kettcar dabei, neu und alt, wenig Überraschungen, dafür neue Geschichten aus dem Swingerclub, von Freitags streikenden Töchtern und Demokratievorstellungen auf Konzerten. Klar wollen wir alle wissen, was der Typ von gegenüber so denkt! Egal, wie oft man all diese Kettcar Songs schon gehört hat, „Deiche“ oder „Im Taxi weinen“, das geht immer. Und wer sich in Bremen bei den Werderfans einschleimt, darf auch ´n bisschen Hip Hop einstreuen. Der Tag wird kommen. Viele Worte, die Gäste kennen jedes einzelne.

Zwei Mal verlässt die Band die Bühne. Die Zugabe-Schreie und der Applaus sind ohrenbetäubend. Noch ein letztes Mal erbt der Zahnarzt das Skateboard und dann war es das, das vorerst letzte und zeitgleich größte Kettcar Konzert in Bremen.

Wir warten gespannt.

Galerien (by Thea Drexhage bs! 2020):

Setlist Niels Frevert:

  1. Leguane
  2. Wind in Deinem Haar
  3. Baukran
  4. Der Typ, der nie übt (Worum es eigentlich geht)
  5. Speisewagen
  6. Putzlicht
  7. Immer noch die Musik
  8. Brückengeländer
  9. Ich würde dir helfen, eine Leiche zu verscharren, wenn’s nicht meine ist
  10. Seltsam öffne mich
  11. Ich suchte nach Worten für etwas das nicht an der Straße der Worte lag

Setlist Kettcar:

  1. Volle Distanz
  2. Money Left to Burn
  3. Benzin und Kartoffelchips
  4. Sommer ’89 (Er schnitt Löcher in den Zaun)
  5. Wagenburg
  6. Rettung
  7. 48 Stunden
  8. Balu
  9. Palo Alto
  10. Auf den billigen Plätzen
  11. Der Tag wird kommen (Marcus Wiebusch)
  12. Balkon gegenüber (mit 2. Strophe)
  13. Nur einmal rächen (Marcus Wiebusch)
  14. Ankunftshalle
  15. Den Revolver entsichern
  16. Im Taxi weinen
  17. Landungsbrücken raus
    Encore 1:
  18. Trostbrücke Süd
  19. Kein Außen mehr
  20. Deiche
    Encore 2:
  21. Mein Skateboard kriegt mein Zahnarzt

Links:
Kettcar
Niels Frevert

Thea Drexhage
Thea Drexhagehttps://www.be-subjective.de
Thea Drexhage hat Salma Hayek einiges voraus! 10 mm. Wie die meisten Frauen der Redaktion, Duffy, Beth Ditto, Joan Rivers oder Angus Young kann sie die MusikerInnen aus dem Bühnengraben also völlig problemlos sehen, wenn jemand ihren Hocker trägt, wird aber - das hat sie mit Salma dann doch wieder gemein - dennoch viel zu oft auf Ihre Körpergröße, ihre Mähne und ihre leicht misanthropischen Anflüge reduziert. Damit sie also nicht im nächstbesten Titty Twister von Sonnenunter- bis Sonnenaufgang Menschenmengen und Bläser mätzelt, halten wir “Aggro-Thea”, die zuvor ganze Landstriche in Mecklenburg Vorpommern ausgerottet hat, halbtags im spießbürgerlichen Oldenburger Exil an der langen Leine. Seither legt sich die scheißpünktliche existentialistische Besserwisserin analog mit Sartre, Camus & Kodak an und ja, auch wir müssen neidlos zugestehen, dass der Instagram-Account ihrer beiden Katzen “Salma” und “Hayek” mehr Follower pro Tag hat, als unser webzine im ganzen Jahr.

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