Review: Staubig, staubiger, Hurricane (2022)

Nach 2 Jahren Zwangspause – die sich tatsächlich noch viel länger angefühlt haben – kann endlich wieder „gescheeßelt“ werden, der Eichenring steht in altem Glanz bereit. Wie sehr das Festival in den letzten Jahren gefehlt hat, zeigten am Wochenende vom 16.6.-19.6. über 80.000 Besucher*innen, die nicht nur gekommen sind, um Musik zu genießen, sondern auch für den Konsum, denn das Gelände füllt sich Jahr für Jahr mehr mit Fressbuden, Merchständen und Billigkleidungsherstellerpavillions. So ein Event gleicht mittlerweile einem Wochenend-Städtetrip. In diesem Jahr bleibt es beim Festival überraschenderweise trocken – heiß und trocken. Für ausreichend Trinkwasser auf dem Gelände ist zum Glück gesorgt. Dennoch wirken die Bilder der Gäste an Tag eins schon Szenen aus der jüngsten Mad Max Verfilmung.

Atmo beim Hurricane (Foto: Thea Drexhage bs! 2022)
Atmo beim Hurricane (Foto: Thea Drexhage bs! 2022)


Nach dem Warm-Up Donnerstag mit Milliarden, Sondaschule und Megaloh im Zelt, startet am Freitag das reguläre Programm auf insgesamt 4 Festivalbühnen und ein altbekanntes Problem macht sich wieder breit: Wo soll es hingehen? Da es der Wissenschaft immer noch nicht gelungen ist, dass wir unseren Körper und Geist teilen können, müssen harte Entscheidungen getroffen werden – nicht selten macht sich dabei Unmut über die vorherrschenden Timetable breit. Turbostaat und Bad Religion spielen beispielsweise zeitgleich. Auch die Entfernung von den äußeren Bühnen zueinander ist zwischen zwei Künstler*innen kaum zu bewältigen, denn in diesem Jahr ist das Gelände sogar noch gewachsen. Das Problem dabei: die interessantesten Acts, all jene die man noch nicht in den letzten 10 Jahren Hurricane gesehen hat, spielen an den Rändern. Darunter auch ein Großteil der Bands mit FLINTA* (Frauen, Lesben, intersexuelle, nicht-binäre, trans und agender Personen). Während der Anteil mit 18% in diesem Jahr fast schon hoch bemessen ist, ist es schade, dass diese überwiegend sehr früh, am Rande und dann noch zeitgleich spielen. Betrachtet man nur die Live-Musik hingegen, gibt es am Festival absolut nichts auszusetzen. Der Sound ist an allen Bühnen überragend gut. Hier ein paar musikalische Highlights:

Freitag

OK Kid (Foto: Thea Drexhage bs! 2022)
Goat Girl (Foto: Thea Drexhage bs! 2022)

Der Freitag startet klassisch mit dem hauseigenen Hurricane Swimteam, welches von Elton auf einer der Hauptbühnen begrüßt wird. Zahlreiche Gäste sind bereits vor Ort, um den Festivalauftakt ausgiebig zu feiern.
Im Zelt, das in diesem Jahr extrem gewachsen ist, wodurch es zu früher Stunde mit nur wenigen Besuchern noch leerer wirkt, stehen Goat Girl aus London mit gemütlichem Indie-Rock auf den Brettern. Auf der River Stage übernehmen derweil OK Kid für die ausgefallene Gayle und spielen ein solides Set – vor allem die politischen Songs kommen dabei gut an. Das spannendste Programm findet am ersten Festivaltag jedoch auf der Mountain Stage am Rande des Infields statt. Dort geben sich Wargasm, Millencollin, Neck Deep und Electric Callboy die Klinke in die Hand. Vor allem While She Sleeps überraschen dabei. Gewaltige Moshpits und Staub, so viel Staub, beherrschen den Platz vor der Bühne. Die in Deutschland eher unbekannten Neck Deep überraschen mit ganz klassischem amerikanischen Punkrock ohne viel Geschnörkel. Es folgt der obligatorische Abstecher zu SDP. Gibt es eigentlich Festivals wo die nicht spielen oder kommen die mit jeder Steckdose inklusive? So oder so ein funktionierendes Prinzip, denn die Massen finden’s gut Für uns endet der Abend bei Electric Callboy, die frisch toupiert die Mountain Stage erklimmen und noch einmal richtig Staub aufwirbeln – das wird gemütlich knirschen später im Zelt.

While She Sleeps (Foto: Thea Drexhage bs! 2022)

Samstag

Schrottgrenze (Foto: Thea Drexhage bs! 2022)

Der längste Festivaltag startet schon um 12 Uhr mit Schrottgrenze auf der Forrest Stage. Und spätestens da merkt man, dass doch etwas die Übung fehlt. Viele Securities sind neu, die Abläufe holpern und einige scheinen noch gar nicht richtig zu wissen, wie der Hase läuft. So starten Schrottgrenze pünktlich, aber vor gänzlich leerem Platz, denn die Gäste werden erst später auf das Gelände gelassen. Zum Glück füllt sich das Infield später noch ein bisschen mehr, denn die Band verdient es definitiv gesehen zu werden, nicht nur wegen der absolut wichtigen queer-feministischen Musik, sondern auch, weil sie trotz Krankheit in der Band nicht einfach ihren Gig abgesagt haben. Stattdessen übernimmt Saskia Lavaux kurzerhand Schlagzeug und Gesang.

Brutus (Foto: Thea Drexhage bs! 2022)
Kat Frankie (Foto: Thea Drexhage bs! 2022)
Aurora (Foto: Thea Drexhage bs! 2022)


Schlagzeug und Gesang gibt es auch bei Brutus kurze Zeit später auf derselben Bühne. Das belgische Trio zählt mit ihrem progressiven, donnernden Post-Rock mit Sicherheit zu einem der Tageshighlights. Leider ist es um 13 Uhr noch nicht wirklich voll vor der Forest Stage. Schade, denn mit dem Wegfall des Musikfernsehens und dem Überangebot durch frei zugänglichem Streaming hätten Festivals dieser Größe die Chance, auch kleinere Bands bekannt zu machen, würden sie nicht zu solch unchristlichen Uhrzeiten und mit so viel Konkurrenz spielen.
Ebenfalls ganz fantastisch ist die Performance von Kat Frankie auf der Wild Coast Stage (Zelt), doch auch dort bleibt es leerer, als es sein müsste. Über die Qualität der „Bad Behaviour“-Sängerin muss an dieser Stelle kaum noch ein Wort verloren werden. Die Stimmung, vor allem auf der Bühne, ist ausgelassen und einen kleinen Vorteil haben die wenigen Zuschauer ja doch: so fühlt man sich, als sei man Teil etwas ganz Besonderem. Mit Bad Religion und Jimmy Eat World folgen auf der Forest Stage zwei absolute Klassiker und Garanten für gute Stimmung. Die Überraschung des Tages die Social Media Sensation Aurora auf der Wild Coast Stage, bei welcher sich das Zelt vor allem mit jungen Frauen* füllt. Die Norwegerin schrieb ihren ersten großen Hit bereits mit zwölf – dieser erlangte jedoch erst Jahre später über die Plattform Tik Tok größere Bekanntheit. Seitdem ist die Sängerin ein empowerndes Vorbild für die jüngeren Generationen, kann aber auch alte Hasen mit ihren sphärischen Klängen in ihren Bann ziehen.

Absolut nicht sphärisch, sondern brutal und direkt geht es beim Redaktionshighlight zur Sache. Idles haben in den letzten Jahren immer mehr an Beliebtheit gewonnen. Das merkt man auch vor dem Infield. Die Band gewinnt die Herzen der Menge durch direkte, politische Texte und jeder Menge Interaktion. Es ist einfach herzerwärmend, wenn zehntausende Menschen

„Motherfucker“

gegen das Patriarchat brüllen.

Idles (Foto: Thea Drexhage bs! 2022)
Twenty One Pilots (Foto: Thea Drexhage bs! 2022)

Den ersten Downer gibt es bei K.I.Z. Die ersten Reihen des Infields sind an dieser Stelle von überwiegend jungem Publikum belegt, die sehnsüchtig auf die Twenty One Pilots warten, während hinten hart gemosht wird. In Verbindung mit drei unerfahrenen Jahrgängen, die vermutlich noch nie auf einem Festival waren, eine brenzliche Situation. Immer mehr Verletzte werden aus dem Infield gezogen und sammeln sich hinter der Bühne. Die Sanis kommen kaum hinterher. Eine kurze Unterbrechung der Show wäre mehr als sinnvoll gewesen, lässt allerdings auf sich warten. Diese gibt es dafür im Anschluss bei Deichkind, als es stellenweise zu eng auf dem Gelände wird, denn logischerweise wollen viele K.I.Z. Fans im Anschluss die Deichkind-Show, btw. am Rande die gleiche wie auf der Tour 2019, sehen. Bis auf ein dezentes FCK PTN während der ausgeklügelten Bürostuhlchoreo von „Bück dich Hoch“ gibt es keine weiteren Überraschungen.

Die Headliner Twenty One Pilots können dafür auf ganzer Linie überzeugen. Die Musik des Duos bedient sich an allen populären Genres und die Show ist wahrlich headlinerwürdig, das muss man sogar eingestehen, wenn man mit der Musik nix anfangen kann. Durch viel Kontakt zum Publikum und einer kurzen Lagerfeuer-Akustiksong-Einlage wirkt der riesen Gig trotzdem irgendwie familiär und besonders, dafür hat sich für viele das Leiden während K.I.Z. gelohnt.

Sonntag

Press Club (Foto: Thea Drexhage bs! 2022)
Nura (Foto: Thea Drexhage bs! 2022)

Auch am Sonntag starten viel zu gute Bands viel zu früh. So zum Beispiel Press Club auf der Mountain Stage. Die Australier*innen haben sich in der Vergangenheit unter anderem beim Reeperbahn-Festival eine treue deutsche Fanbase erspielen können, nicht zuletzt dank Sängerin Natalie, die wie eine Irre über Bühne und durch das Publikum fegt. Solider Punk Rock, der mal wieder, viel zu viel Staub aufwirbelt. Es ist der Vormittag der Frauen beim Hurricane, denn auf der River Stage geht es direkt weiter mit der Emo-Formation Hot Milk, die die Gäste klanglich zurück in die 2000er Jahre befördern. Und dann spielt auch schon Nura auf der Mountain Stage um 13 Uhr und es wird ordentlich voll. Strotzend vor Selbstbewusstsein wickelt sie die Zuschauer*innen mit feministischem Rap und Berliner Schnauze um den kleinen Finger und es gibt das vermutlich herzlichste Moshpit des gesamten Wochenendes – kein Wunder, hat sie doch extra „Lochbeauftragte“ abgestellt, die sich um das Wohlergehen aller kümmern. Das hätte mit Sicherheit auch auf einer größeren Bühne zu späterer Stunde funktioniert. Gleichzeitig mit Alice Merton spielen Blond im Zelt, bevor sich die großartigen Blues Pills gegen die fragwürdigen Swiss und die Andern durchsetzen müssen und während ein Thees Uhlmann, seine zwar tolle, aber doch irgendwie immer gleiche Leier auf einer der Hauptbühnen spielt, muss man für die nicht weniger großartige Mine den weiten Weg bis ins Zelt zurücklegen. Und dann war es das mit den Künstler*innen.

Es folgen solide Auftritte von Bring Me The Horizon und The Hives, die auch wie immer gut sind, aber wenig überraschen, bevor mit Rise Against endlich etwas mehr Politik auf eine der Hauptbühnen kommt. Blaues und gelbes Licht umleuchten Sänger Tim McIlrath und geben Songs wie „Prayer Of The Refugee“ leider eine neue, aktuelle Bedeutung.

Rise Against (Foto: Thea Drexhage bs! 2022)

Den Abschluss machen Kings Of Leon, die den perfekten Soundtrack liefern, um die Zelte zusammenzupacken, aber nicht unbedingt, um die großen Mengen vor der Bühne zu halten. Ist alles eben irgendwie nix Neues, für das es sich zu bleiben lohnt.

Auch, wenn das Hurricane seine Schwächen aufweist, ist es schön, dass endlich wieder Events dieser Art stattfinden können. Die jungen und jung gebliebenen Leute haben es gebraucht und auch den Menschen auf der Bühne hat man angemerkt, dass in den letzten beiden Jahren etwas sehr wichtiges gefehlt hat. Aber leider muss man auch sagen, dass die Warnungen in der Corona Warnapp an diesem Wochenende in den dreistelligen Bereich geklettert sein dürften. Vielleicht ist es zu früh, andererseits ist es vermutlich auch an der Zeit für Eigenverantwortung, aber ob solche großen Festivals tatsächlich mehr Spaß als Stress sind, das muss jeder Gast am Ende des Tages für sich selbst entscheiden.

Atmo beim Hurricane (Foto: Thea Drexhage bs! 2022)

Galerien (by Thea Drexhage bs! 2022):
Hurricane

Links:
Hurricane

Veranstalter:
FKP Scorpio

Thea Drexhage
Thea Drexhagehttps://www.be-subjective.de
Thea Drexhage hat Salma Hayek einiges voraus! 10 mm. Wie die meisten Frauen der Redaktion, Duffy, Beth Ditto, Joan Rivers oder Angus Young kann sie die MusikerInnen aus dem Bühnengraben also völlig problemlos sehen, wenn jemand ihren Hocker trägt, wird aber - das hat sie mit Salma dann doch wieder gemein - dennoch viel zu oft auf Ihre Körpergröße, ihre Mähne und ihre leicht misanthropischen Anflüge reduziert. Damit sie also nicht im nächstbesten Titty Twister von Sonnenunter- bis Sonnenaufgang Menschenmengen und Bläser mätzelt, halten wir “Aggro-Thea”, die zuvor ganze Landstriche in Mecklenburg Vorpommern ausgerottet hat, halbtags im spießbürgerlichen Oldenburger Exil an der langen Leine. Seither legt sich die scheißpünktliche existentialistische Besserwisserin analog mit Sartre, Camus & Kodak an und ja, auch wir müssen neidlos zugestehen, dass der Instagram-Account ihrer beiden Katzen “Salma” und “Hayek” mehr Follower pro Tag hat, als unser webzine im ganzen Jahr.

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