King's X: Gretchen Goes To Nebraska (1989) Book Cover King's X: Gretchen Goes To Nebraska (1989)
Hardrock / Metal
Megaforce/Atlantic Records
18. Juni 1989

Tracklist:

  1. Out of the Silent Planet
  2. Over My Head
  3. Summerland
  4. Everybody Knows a Little Bit of Something
  5. Difference (In The Garden Of St. Anne's-On-The-Hill)
  6. I'll Never Be the Same
  7. Mission
  8. Fall on Me
  9. Pleiades
  10. Don't Believe It (It's Easier Said Than Done)
  11. Send a Message
  12. The Burning Down

Es gibt diese Alben, die einen begleiten; mit denen man alt wird. Im Laufe der Zeit vergisst man sie ab und an und fühlt sich seltsam schuldig, sobald man es bemerkt, kramt sie dann eher aus Pflichtgefühl heraus, um anschließend beinah irritiert festzustellen, dass sie noch genauso großartig sind wie beim ersten Hören. Nostalgie? Mag sein. Aber „Gretchen Goes To Nebraska“, das zweite Album von King's X, klingt heute noch genauso zeitlos wie zum Zeitpunkt seines Erscheinens.

Zugegeben: Mit heutigen Ohren gehört, mag ihr Sound nicht mehr ganz so eigen wirken wie damals, immerhin sind seitdem fast 30 Jahre vergangen, in denen sich Rockmusik verändert und entwickelt hat, aber damals klang niemand wie diese Band. Niemand. Versuch einer Beschreibung? Okay. Und ich entschuldige mich vorab bei allen Fans, die finden, dass ich den Sound nicht 100%ig auf den Punkt bringe. Ich weiß. Egal. Es handelt sich um eine Mischung aus Beatles, AC-DC und 80'er Jahre Hard Rock, mit soulig mehrstimmigem Chorgesang, dem man seinen Ursprung im Gospel deutlich anhört, ebenso psychedelisch wie eingängig, und perfekt gespielt von Doug Pinnick (Gesang & Bass), Ty Tabor (Gitarre & Gesang) und Gerry Gaskill (Schlagzeug).

King's X waren von Anfang an Kritikerlieblinge. Namhafte Bands der Zeit, wie Iron Maiden oder Mötley Crüe, die Scorpions oder Pearl Jam, nahmen sie mit auf Tour und ließen keine Gelegenheit aus, sie abzufeiern. Jim Martin (Faith No More) bezeichnete sie als eine der wenigen interessanten aktuellen Bands und Jeff Ament (Pearl Jam) behauptete gar, King's X hätten Grunge erfunden. Weiß ich nicht. Letzten Endes half es alles nichts. Um eine breitere ZuhörerInnenschaft zu finden, waren sie offenbar zu schräg oder nicht leicht genug einzuordnen. Im Vorprogramm von AC-DC gingen sie damals jedenfalls brutalst unter.

Nachdem ich „Gretchen Goes To Nebraska“ 1989 entdeckt hatte, habe ich die Platte eine Weile ständig gehört. Wieder und wieder habe ich mir dabei die merkwürdig surrealistischen Texte durchgelesen und erfolglos versucht, Interpretationen zu finden. Erst später habe ich erfahren, dass die Bandmitglieder sich als gläubige Christen begreifen. Und damit waren die Lyrics entschlüsselt. Auch der Bandname ergab schlagartig Sinn. King's X: des Königs Kreuz. (Stichwort: Jesus?) Halt, halt, halt! Keine Angst! King's X sind keine dieser predigenden Christian Rock-Bands, denen man allein für ihre bekloppten Bandfotos eine Backpfeife verpassen will. Obwohl sie sich oft auf biblische Texte beziehen, rücken sie solche Themen nie bekehrend in den Vordergrund, sondern benutzen sie eher metaphorisch, deuten sie an, um Geschichten zu erzählen. Oder um den TV-Evangelismus der 80'er Jahre auf's Korn zu nehmen. Soll heißen: Das Ganze ist kein Marketing-Gimmick, um mehr Platten im amerikanischen Bible Belt zu verscherbeln,

nee, ey, die Kerle meinen's wirklich ehrlich.

Nachdem die ersten vier Alben (produziert von Sam Taylor) wie aus einem Guss waren, was Sound, Themen und Plattencover betraf, folgte mit „Dogman“ (1994) die Abkehr vom Gewohnten. Obwohl die Band ihren Sound nicht grundsätzlich veränderte, war er doch ein gutes Stück härter und die Texte … weltlicher; zwischen den Zeilen war eine gewisse Frustration mit christlichen Werten herauszulesen. Ihr neues Label, Atlantic, bei dem sie schon seit der vorherigen Platte unter Vertrag waren, gab marketingtechnisch nochmal richtig Gas, aber auch Auftritte beim „Woodstock 1994 Festival“ oder Jon Stewarts Late Night-Show brachten nicht den durchschlagenden Erfolg. Soviel zum Thema:

Qualität setzt sich durch.

Ungeachtet dessen zog die Band weiterhin ihr Ding durch und veröffentliche mit „Ear Candy“ (1996) ein weiteres brillantes Album. Und dann? Hm. Ganz ehrlich? Aus irgendeinem Grund habe ich den fünf seitdem erschienen Alben, genau wie den Soloprojekten von Doug Pinnick und Ty Tabor, nie eine wirkliche Chance gegeben. Beiläufig reingehört. Als uninteressant empfunden. Und anschließend ignoriert. Genau wie die Band an sich. Idiotisch. Alles mein Fehler. Erst vor zwei Jahren habe ich festgestellt, dass sie den anderen Platten in (so gut wie) nichts nachstehen.

Aufgrund meiner Ignoranz habe ich deshalb auch erst mit etlichen Jahren Abstand mitbekommen, dass die Story King's X vs. The Christentum noch eine ganz unerwartete Dimension bekommen hatte. Schon 1999 hatte sich Doug Pinnick nämlich als schwul geoutet. Genau: Ein schwuler, schwarzer, gläubiger Christ aus den amerikanischen Südstaaten, mit Iro und Lederjacke, der zu allem Überfluss auch noch Frontmann einer Hard Rock-Band war. Muss man sich mal klarmachen!

Seitdem ist Zeit vergangen. King's X touren immer noch, ohne weiter beachtet zu werden. Aber wenn ich mir „Gretchen Goes To Nebraska“ heute anhöre, bin ich wieder exakt da, wo ich als 15jähriger war. Ich erinnere mich haargenau daran, wie es war, auf meinem schmuddeligen Teppich vor der Anlage zu liegen, „Summerland“ zu hören, den Text über's Älterwerden mitzubrummen und mir vorzustellen, wie sich das Lied wohl als Erwachsener mal anfühlen würde. Irgendwann halt. Später. In der Zukunft.

Summerland in my past
Days were full and I knew it would last
I never thought there was anything else but you

Summerland
The wind is getting cold
Summerland
You're finally getting old

Not much time, there's much to do
Look ahead and walk on through
No one's taking sides this time - it's you

Summerland
Your sky can still be blue
Summerland
Always in love with you

Summerland in my past
Days were full and I knew it would last
I never thought there was anything else but you

Summerland
The wind is getting cold
Summerland
You're finally getting old

Puh. Doug Pinnick ist Jahrgang 1950, älter als meine Eltern, und war schon unglaubliche 39 Jahre alt, als „Gretchen Goes To Nebraska“ erschienen ist. War mir damals nicht bewusst. Ich bin jetzt drei Jahre älter als er 1989 war. Obwohl ich mir gerne einrede, dass mir dieses nostalgische In-der-Vergangenheit-schwelgen komplett abgeht, begreife ich doch unweigerlich, wie sehr er dieses Feeling des Älterwerdens in „Summerland“ auf den Punkt gebracht hat. Seltsamerweise fühlt sich das Lied trotzdem noch immer genauso an wie damals. Nicht anders.

Und genau daran erkennt man möglicherweise großartige Songschreiber: Dass sie ein Feeling bei HörerInnen heraufbeschwören können, zu dem er selbst (noch) keinen eigenen Bezug hat. Wahrscheinlich ist „Gretchen Goes To Nebraska“ auch deshalb eines dieser Alben, das jede Generation für sich neu entdecken kann, weil es unabhängig von Trends oder Zeitgeschehen Stimmungen erzeugt und HörerInnen zwingt, eigene Interpretationen zu finden.

Weil es eine Auseinansdersetzung braucht.

Ich bin sicher, dass ich „Gretchen Goes To Nebraska“ auch in 20 Jahren noch auflegen und mich wie 15 fühlen werde. („Wenn wa denn dann noch leben, ne, Kind?!“) Oder wie jetzt. Oder irgendwann zwischendurch. Weil dieses Album Zeit transzendiert. Wie beinah alle Songs von King's X.

Aus diesem Grund habe ich für all die Uneingeweihten unter Euch eine Playlist gebastelt. Einfach mal reinhören. Denn wie sagte schon Wilde Silas Tomkin in den Liner Notes zum Album? „Music in this day and age performed by humans? Hum … ?!“ 

Spotify Playlist

 

 

 

 

 

 

Vorheriger ArtikelPreview: Archive kommen im November auf Tour (2017)
Nächster ArtikelDool: Here Now, There Then (2017)
Mirco Buchwitz
Buchwitz – ja der heißt wirklich so und hat sich bis heute kein lustiges Pseudonym gegeben – hat mal einer Prinzessin die Arschbacken zusammengekniffen und dann war was mit Carolin Kebekus. Soll übel gewesen sein. Dabei schreibt der in erster Linie aus Verzweiflung und ist voll anstrengend mit all diesem reflektierten Zeug. Syntax im Jahrtausend von Autokorrektur. Geht’s noch? Angeblich hat der sogar Hausverbot in einigen veganen Hotspots der first world, weil für sein Gemüsical, ein Hörstück ohne Konservierungsstoffe, echte Karotten gestorben worden sind. Seine Karriere als Kritiker ist also ganz im Sinne seiner Bewährungsauflagen und wir befürchten, der kann die Texte auch selber vorlesen. Scheiß Spießer.