Review: Gitarrengeschrammel fickt Beat – und umgekehrt! The Notwist (12.02.2017, Berlin)

Es ist dunkel in Berlin und arschkalt. Was liegt da näher als sich mit hunderten von Leuten dicht gedrängt in ein schön melancholisches Konzert zu kuscheln?! Musik ist ja bekanntlich wärmer als draußen – und The Notwist im Astra; gibt bestimmt ‚Schlimmeres‘. Zwischen bayrischem Biergarten-Charme (warme Brezeln: 1,50 Euro) und Erichs Lampenladendeko tummeln sich Fans aus drei Jahrzehnten Bandgeschichte. Urgesteine schwelgen in Erinnerungen. Twinks konsumieren zum aktuellen Album brav den dazu passenden Jutebeutel.

Drinnen wabern bereits Bässe. Der Support – das Duo 1115 – lädt in postapokalyptische Klangwelten. In ständig alterierenden Loops fräsen sich ihre klaustrophobisch übersteuerten Beats in den Raum. Tapfer spielen die Münchner Brüder (Grey und Fehler Kuti) ihr improvisiertes Set in das beharrliche Grundrauschen von Smalltalk und Bierbestellungen. Vielleicht muss mensch sich so urbane Kammermusik vorstellen. Am Ende gibt’s vorne bis mitte Applaus. Next.

The Notwist (Foto: Andreas Budtke bs!)
The Notwist (Foto: Andreas Budtke bs!)

Wenig Später stehen The Notwist vor uns. Die augenblicklich aufbrandende Euphorie erwidern die schüchternen Oberbayern tapfer: „Hallo“. Die Jungs sind eben nicht zum Quatschen da. Stattdessen setzen sie mit Signals routiniert ihre Sound-Maschinerie in Gang (im Einstieg geschickt kompatibel mit dem eigentlichen Album-Starter, They Follow me). Zuerst irritiert die latente Kälte des stringent minimalistischen Stücks schon etwas. Sowas als Welcome? Aber vielleicht erklärt ein Rückblick auf den Support das. Und außerdem erfolgt die eigentliche Begrüßung dann mit dem tief melancholischen Insider-Leckerbissen, Come in.

So come in,
because you’ll win
So come in,
you’re already in

Sehr schön – möge der Abend beginnen!

The Notwist (Foto: Andreas Budtke bs!)

Mit Kong geht es auch gleich konkret und schön schrammig ans Eingemachte. Erste kleine Tanznester entfalten sich hier und da. Kurz danach schwingen Hymnen wie Boneless und One with the Freaks im Raum. Und spätestens als zum exzentrischen Synthesizer von Into Another Tune immer mehr Fans die lange hochgehaltene Contenance eines höheren Hörgenusses zum Teufel jagen und nach vorne drängen, ist klar: Da vorne braut sich anständig etwas zusammen.

Die Melancholie hat Feuer gefangen.

The Notwist (Foto: Andreas Budtke bs!)

Dabei beginnt This Room fast noch unschuldig. Mit geradezu sommerlicher Unbekümmertheit rotzen die Riffs über uns hinweg. Doch plötzlich werden sie von einem jazzy Instrumenten-Gewitter geschluckt. Drinnen im dumpf brodelnden Klangbrei jamt das blanke Chaos. Irgendwann Luftholen – nicht nur auf der Bühne. Doch die einmal gerufenen Geister wird man nicht mehr los. Schon treibt uns Run Run Run unerbittlich nach vorn. Aus seinem Beat steigt der bekannte Loop-Balon empor.

run run run run run …

Und am Horizont bereits Neon Golden – als nur erster Kracher eines schier triumphalen Triptychons (Neon Golden, Different Cars and Train, Pilot). Gitarrengeschrammel fickt Beat – und umgekehrt! Überall Soundschlingen und Bässe! Man weiß gar nicht mehr, wo einem der Kopf steht. Und als Markus‘ Different-Fragment zwar wie üblich in Dali’scher Breiigkeit zerfließt; aber anstatt einfach zu entschwinden, in einem brachialen Bass Bombardement explodiert und weißes Licht den Saal flutet, schnapp‘ auch ich kurz nach Luft.

Epiphanie und Absolution!

The Notwist (Foto: Andreas Budtke bs!)

Selbst als verwöhnte/r BerlinerIn kann mensch da nicht meckern. In die Ruhe nach dem Sturm ‚zwitschert‘ Lineri schließlich seine experimentellen Klangfiguren. Und hier beginnt sich die Spreu vom Weizen zu trennen. Vereinzelte JutebeutelträgerInnen verlassen beseelt den Saal: One step inside doesn’t mean you understand – schade, dass es nicht gespielt wurde. The Notwist aber servieren fleißig weiter. In ihren üppigen Encores feiern sie antiquarische Schätze wie Puzzle und Day 7. Back to the Nineties! Das hätte das Jungvolk wahrscheinlich eh nicht verstanden.
Und schließlich machen The Notwist den Sack ganz Album-konform und Gentleman-like zu: mit Consequence und Gone Gone Gone geleiten uns unaufdringlich zur Tür. War ein geiler Abend, Jungs – gerne wieder!

Galerien (Andreas Budtke bs!):

The Notwist (Foto: Andreas Budtke bs!)

Setlist:

  1. Signals
  2. Come In
  3. Kong
  4. Boneless
  5. Into Another Tune
  6. Pick Up the Phone
  7. One With the Freaks
  8. This Room
  9. One Dark Love Poem
  10. The Devil, You + Me
  11. Run Run Run
  12. Neon Golden
  13. Different Cars and Trains/Pilot
  14. Lineri
    Encore:
  15. Puzzle
  16. Gravity
    Encore 2:
  17. Day 7
  18. Consequence
  19. Gone Gone Gone

 

Links
www.notwist.com
www.facebook.com/thenotwist
www.facebook.com/soundslike1115

Raffael Lenz
Raffael Lenzhttps://www.be-subjective.de
Eigentlich ist Raffael Lenz Archäologe, aber das soll keine/r wissen - daher Schwamm drüber. Musikalisch war Raffael früher mal Metal, heute ist er eher Grammatik.  Sushi, Rachmaninov oder Tom Waits. Heimlich sogar Cluseo oder Lamm. Fleischessen ist ja doch eher so 90er. Raffael ist stolzer Besitzer so mancher Marotte, eines Latinums (Stultus inter pares!), einer eigenen Teetasse – einem Unikat – aus der niemand sonst trinken darf. Nicht mal Clueso. Nicht mal heimlich. Er liebt Brettern mit Brecht, Dürrenmatt, Eugène Ionescos’ Nashörner und leidet an einer ausgeprägten Phobie gegen Volksmusik, Schlager und Gott. Lenz traut sich bis heute keinen Kopfsprung zu und jeden Mist, den er schreibt, muss mensch nachschlagen. Aber ganz ehrlich: Wir haben ihn eh nur eingestellt, weil er Schokoladentorten backen kann.  Von seinem Blog (Echtes Berlin) raten wir ausdrücklich ab. 

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