Review: Massive Attack auf das Publikum in der Jungen Garde (17.08.2016, Dresden)

Massive Attack spielen in Dresden! Als ich diese Meldung vor etlichen Monaten das erste Mal gelesen habe, konnte ich dies gar nicht so recht glauben und musste die Nachricht gleich überprüfen…tatsächlich, Massive Attack, eine der einflussreichsten Bands – einflussreich nicht nur im Sinne von populär, sondern bedeutend und genreübergreifend Musikkultur prägend – der letzten 25 Jahre geben eine Open Air Show in der Jungen Garde!! Krass, schließlich spielen sie mittlerweile nur noch bei ausgewählten Events. So war es nun auch tatsächlich an diesem besagten Mittwochabend und das Gesehene bzw. Erlebte lässt sich eigentlich schwer beschreiben, wer nicht anwesend war oder sich noch kein Konzert von den Pionieren des sogenannten Trip Hop aus Bristol angeschaut hat.

Die Junge Garde im grünen Herzen von Dresden ist für ihre sehr gute Akustik über die Stadtgrenzen hinaus bekannt, deshalb machte frühes Kommen im Fall von Massive Attack im doppelt Sinn, schließlich gibt es bei ihren Konzerten nicht nur was für die Ohren, sondern vor allem auch für die Augen. Auf dem Weg zur Location kamen dann langsam meine Erinnerungen vom zuletzt gesehen Auftritt vor über 10 Jahren auf dem Hurricane Festival wieder zurück.

Massive Attack (Foto: Alexander Jung)
Massive Attack (Foto: Alexander Jung)

Wer 2016 keine Karte kaufen konnte/wollte, machte es sich auf den anliegenden Wiesen rundherum zum Zuhören gemütlich, so richtig sommerlich war es für Mitte August zwar nicht wirklich, aber zumindest kein Regen und das will dieses Jahr ja was heißen. Apropos Karten, die gab es tatsächlich noch an der Abendkasse, was folgerichtig bedeutete, dass dieses Konzert bis dato noch nicht ganz ausverkauft war. Keine Ahnung was mit den Leuten los ist, aber es kann nicht nur diese diffuse und ziemlich unbegründete Angst vor Massenveranstaltungen sein. Bei der Flut von Nachrichten in den letzten Wochen wünsche ich mir immer die statistischen Gegenwerte, wie viele Menschen sich jedes Jahr ernsthaft im Haushalt verletzen bzw. bei Autounfällen sterben oder wie viele Wohnungseinbrüche polizeilich aufgeklärt werden (Bundesweit so um die zehn Prozent, Anm. T.R.). Dies ist zwar auch Teil von „innerer Sicherheit“, aber meist keine große Meldung wert.

Massive Attack (Foto: Alexander Jung)Auf der Bühne war jedenfalls alles soweit vorbereitet, die Instrumente unter schwarzen Tüchern verhüllt, das Essen auf dem Grill, die Zapfhähne bereit und aus den Boxen sprudelte angenehm entspannende Musik. Das Halbrund im Zuschauerbereich füllte sich langsam, das Publikum war ziemlich durchmischt, da die Band schon immer Leute unterschiedlichen Alters bzw. musikalischer Vorlieben angesprochen hat und dadurch von Beginn an ein verbindendes Element zwischen den Genres und Kulturen war bzw. immer noch ist.

Der Support-Act Kiko King & creativemaze verbreitete gute Laune und läutete vor allem mit ihrem letzten Track die musikalische Richtung ein, mit der es dann gleich bei Massive Attack weitergehen sollte. Das „Gleich“ dauerte allerdings noch eine ganze Stunde, was den örtlichen Veranstalter über die entsprechenden Einnahmen im Catering-Bereich gefreut haben dürfte, doch dann war es endlich soweit.

Massive Attack (Foto: Alexander Jung)
Massive Attack (Foto: Alexander Jung)

3D und Daddy G kamen mit ihren Musikern auf die Bühne, auf der riesigen Videowand fuhr so eine Art Systemcheck hoch, wie wenn man einen PC anmacht und jetzt auf dem Bildschirm quasi das Programm Massive Attack geladen wird. Die ersten Töne von „Hymn of the Big Wheel“ erklangen und dann trat auch noch Horace Andy himself ans Mikrophone – alter Schwede, damit hatte ich nicht gerechnet, dass er live mit am Start ist. Was in den nächsten 1,5h passierte ist wirklich schwer in Worte zu fassen. Ja sie spielten mit „Risingson“, „Angel“ und „Inertia Creeps“ drei meiner absoluten Alltime-Favs. Ja Andy war u.a. auch bei den Klassikern „Man Next Door“ und „Girl I Love You“ am Mikro zu hören. Soundtechnisch sorgten die zwei Drum-Sets und einige Keyboards bzw. Sampler für den bekannten, massiveattackischen Klangkosmos mit meist schleppenden Beats im mal mehr, mal weniger melancholischem Gewand. Zuweilen ließen sie aber die Gitarren in herrlicher Punk-Attitüde so richtig schön ausbrechen, dass die Ohren schon ganz gut zu tun hatten. Aber was auf der Video-LED abging, da wussten die Augen manchmal gar nicht wo sie zuerst hinschauen sollten, so dass die Birne richtig qualmte und zusammen mit den verschiedenen Lichtstimmen für ordentlich Chaos im Gefühlshaushalt sorgte.

Massive Attack (Foto: Alexander Jung)
Massive Attack (Foto: Alexander Jung)

Zu jedem Song wurden gesellschaftsrelevante Thema projiziert, mal mit verschieden Slogans bzw. Textbotschaften, mal der Auto-Vervollständigung einer weltbekannten Suchmaschine, mal Satzfetzen oder Nachrichtentitel zu Extremismus, Glauben, Leben, Liebe, Krieg, Religion, Tod und vor allem über das zwischenmenschliche Zusammenleben, samt ganz aktuellen Bezügen. Wie etwa der Flüchtlingsproblematik bzw. den damit zusammenhängenden Kriegen oder die Meldung über die vier geretteten Leben durch die Organspende, des kürzlich durch einen Autounfall verstorben deutschen Kanu-Trainers bei Olympia in Rio (diese Nachricht wurde erst am Tag des Konzerts über die Medien veröffentlicht, Anm. T.R.). Massive Attack waren also inhaltlich brandaktuell und top vorbereitet, denn fast alles wurde auch in deutscher Sprache auf die Videowand übertragen. Ob die manchmal falschen bzw. fehlenden Buchstaben bei einigen Worten gewollte oder ungewollte Bugs waren, wird wohl das künstlerische Geheimnis der Band bleiben. Bei anderen Songs waren es wiederum nur Daten, Zahlen, historische Ereignisse oder Namen, zum Beispiel welche Bibliotheken und Kulturstätten auf der Welt durch die aktuellen bzw. vergangenen Kriege zerstört wurden sind.

Massive Attack (Foto: Alexander Jung)
Massive Attack (Foto: Alexander Jung)

Die Band hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass sie Pazifisten sind, aber das Ganze findet ohne den berühmten erhobenen Zeigefinger statt, sondern in Kombination zur Musik und deren Texten eher zum Nachdenken anregend mit stichhaltigen Fakten unterlegt. Nebenbei gedacht wäre ein Konzert von Massive Attack eigentlich ein toller Anschauungsunterricht in höheren Schulklassen, samt inhaltlicher Auseinandersetzung im Nachgang in den Fächern Ethik, Geschichte, Gesellschaftskunde, Kunst und natürlich Musik. Ich lese in Gedanken aber auch schon die Schlagzeile Deutschlands bekanntester Tageszeitung…’Musiklehrer ging mit Schülern auf’s Konzert einer Kiffer-Band’ oder:

’Musiklehrer tarnte Konzertbesuch einer linken Band als Schulausflug’

Die zu Beginn des Konzertes angedeutete Metapher Mensch-Maschine-Verbindung zog sich jedenfalls wie ein roter Faden durch das gesamte Konzert und damit sind meiner Meinung nach Massive Attack eine Art moderne Version von Kraftwerk – ohne jetzt die Eine bzw. die Andere Band werten zu wollen. Wer Konzerte beider Gruppen schon live erlebt hat, wird gewisse Gemeinsamkeiten in der Darbietungsform finden können. Ähnlich wie bei den Düsseldorfern bleiben die Musiker durch die Videos eher im Hintergrund um zusätzlich zur Musik ihre entsprechenden Botschaften bzw. gedanklichen Anregungen/Interpretationen noch zu untermalen. Dafür wurde einst auch das LP-Cover bzw. das CD-Booklet erfunden und bei Live-Konzerten eben die besagten Videoprojektion.

„Lots to lose where users use
Skinny don’t fuss it kills place“

Als sie dann zum Ende des Konzertes „Take It There“ als zweiten Track von der aktuellen EP anspielten, dachte ich, wenn jetzt noch Tricky raus ans Mikro kommen würde (auch weil der mittlerweile in Berlin lebende Künstler keine weite Anreise gehabt hätte). Ist nicht passiert, egal. Es war jedenfalls eine phantastische Performance, mit einem perfekten Sound, in einer wunderschöner Lokalität samt sternenklaren Himmel plus Vollmond und einem absolut begeisterten Publikum. Massive Attack – 17. August 2016 – Junge Garde – Dresden…

das war ganz, ganz großes Kino!

Als Zugabe gab es dann noch den Track mit dem sich die Band schon auf ihrem ersten Album unsterblich gemacht hat, auch mit dem dazu veröffentlichten Video: „Unfinished Sympathy“!!

„Like a soul without a mind
In a body without a heart
I’m missing every part“

Dafür gibt es eigentlich keine geeigneten Worte mehr. Bis auf die Tatsache, dass ich nach dem Ende noch kurz verweilen wollte, um das eben Erlebte ein wenig verifizieren zu können, aber keine Chance. Auch das könnte man als eine Art Metapher für unsere kurzweilige, reizüberflutete Gesellschaft interpretieren oder eben die Tatsache, dass man manchmal mit der Masse gezwungener Maßen einfach mit muss, obwohl der eigene Wille dies grade eigentlich nicht möchte.

Galleries Massive Attack (17.08.2016 Dresden)

Setlist

  1. Hymn Of The Big Wheel
  2. United Snakes
  3. Risingson
  4. Man Next Door
  5. Ritual Spirit
  6. Girl I Love You
  7. Future Proof
  8. Eurochild
  9. Pray for Rain
  10. Angel
  11. Inertia Creeps
  12. Take It There
  13. Safe From Harm
    Encore:
  14. Unfinished Sympathy

Weiterhören:

„Blue Lines“, „Protection“, „Mezzanine“, „100th Windows“ & „Heligoland“

Links:

www.massiveattack.co.uk
www.kikoking-creativemaze.com

 

Tobias Richter
Tobias Richterhttps://www.facebook.com/mischband/
Jeder sollte einen Tobi haben. Keiner von uns hat ihn je gesehen, der Typ ist einfach zu groß und artig, der schmeißt aufgeblasene orange Dinger in Einkaufsnetze und - wie man so hört - muss sich der Ü190 Hüne dafür bücken. Eat Sleep Ball Repeat. Ansonsten ist ein Tobi einer, der Kassetten professionell aufwickeln kann, "der immer Ärger macht, der Streiche spielende Anstifter, der, der süchtig nach Furcht ist, ein Sinnbild für Gefahr." Jeder sollte einen Tobi haben. Und eine B-Seite.

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