Review: Humanismus ist nicht verhandelbar – Kettcar im Ringlokschuppen (09.02.2018, Bielefeld)

Der letzte Arbeitstag der Woche steckt in Knochen und Körper. Müdigkeit zeichnet das halbleere RiLo. Schläfrig wird mit einem Ohr Texten ohne Tiefgang gefolgt, leise plätschernde Gitarrensounds versuchen auf der Welle der Großen zu reiten. Das Paradies surft auf der deutschen Indiepop-Strömung, folgt Joris, Clueso und Annenmaikantereit und scheitert an der eigenen Schläfrigkeit.

Das Paradies (Foto: Rune Fleiter bs! 2018)

Erinnerungen an einen verkaterten Sonntagvormittag auf dem Sofa, kein guter Start ins Wochenende, kein guter Start in das bei weitem nicht ausverkaufte Kettcar-Konzert.

Wenn du das Radio ausmachst,
wird die scheiß Musik auch nicht besser

Kettcar und nicht ausverkauft, das passt nur zu Westfalen. Schläfrigkeit statt schwungvoller Wochenausklang leider ebenso. So sehr sich Marcus Wiebusch bemüht, die ersten Lieder laufen ins Leere. Würdigung in Form von fadem Applaus, nicht würdig der Darbietung. Die Fadheit der Vorband lähmt die Vorfreude auf den heutigen Abend.

Freitagabend […] – Wir nennen es Party

Kettcar (Foto: Rune Fleiter bs! 2018)

Erstes Aufwachen bei Graceland, eine leichte Briese entfacht das Meer, noch schläfrig wird sich geräkelt. Anekdoten lockern, aus Treiben wird Bewegung. Poesie trifft Rock, Beobachtungen treffen Begegnungen, Kritik trifft Lob. Humanismus ist nicht verhandelbar. Kettcar stehen dafür ein und benennen den nächsten Block selbst als Politpunkballaden.

Ich hab die romantische Vorstellung, dass diese Band so lange weitermacht, bis man keinen Unterscheid mehr hört zwischen Politpunk und Liebeslied. (Marcus Wiebusch)

Auch wenn der gemeine Westfale sich eher scheut, mitsingen bei Kettcar klappt, Gänsehautmomente zu 48 Stunden. Auch das begrabene Herz schlägt noch.

Das Glas halbvoll oder doch halbleer?
Und wen interessiert das bitte sehr?

Kettcar (Foto: Rune Fleiter bs! 2018)

Ergreifend schön und doch nicht vollkommen. Die Suche nach dem fehlenden Etwas lässt in Erinnerungen schwelgen. Der letzte Funken Zauber fehlt, ob die Abendsonne beim Serengeti Festival 2013, oder die unendliche Zuversicht der großen Freiheit vergangene Woche. Vielleicht fehlt auch nur mehr Schwung als die zurückhaltende westfälische Begeisterung über die tadellose Darbietung.

Die Band lässt es sich nicht anmerken und auch wenn das Ende der Tour naht, Routine und Ermüdung sind nicht aufzuspüren.

Deiche brechen richtig – oder eben nicht

Das letzte Lied des „offiziellen“ Sets. Deiche brechen, die Hemmung bricht, eine Welle der Begeisterung bricht über das Publikum herein, reißt alle(s) mit. Der Westfalen allgemein zugesagte Mangel an Begeisterungsausdruck belehrt in diesem Moment eines Besseren. Das vielfältige Animieren von Kettcar zahlt sich aus, fast zu spät, dennoch, jetzt ist der Wellenritt perfekt.

Kettcar (Foto: Rune Fleiter bs! 2018)

Tosender Applaus lässt die Musiker nicht lange hinter der Bühne, ab diesem Moment und in diesem Moment soll der Abend nicht mehr enden. Der Ringlokschuppen ist endlich erwacht, kennt einen tadellos rappenden Marcus Wiebusch an, agiert mit dem anekdotenerzählenden Reimer Bustorff, tanzt und singt.

Aus einem seichten Seegang ist eine tosende Brandung geworden.

Ein Profi hätte aufgehört

Nicht so Kettcar, die erneut vom Publikum hinter der Bühne hervorgelockt wurden. Auf dieser Tour wird mit Traditionen gebrochen. Traditionell verabschiedet „Balu“ oder „Landungsbrücken raus“ das Publikum. „Den Revolver entsichern“ nimmt nun diesen Platz ein, macht Mut und hinterlässt ein Gefühl von Stärke, Zuversicht und Hoffnung, auf ein friedliches Zusammenleben, irgendwann in der Zukunft.

Politpunkballaden zeugen eben auch vom Hippietum.

Galerien (by Rune Fleiter bs! 2018):

Kettcar (Foto: Rune Fleiter bs! 2018)

Setlist:

  1. Trostbrücke Süd
  2. Balkon gegenüber
  3. Graceland
  4. Money Left to Burn
  5. Sommer #89 (Er schnitt Löcher in den Zaun)
  6. Wagenburg
  7. Rettung
  8. 48 Stunden
  9. Balu
  10. Benzin und Kartoffelchips
  11. Tränengas im High-End-Leben
  12. Kein Außen mehr
  13. Im Taxi weinen
  14. Mannschaftsaufstellung
  15. Ankunftshalle
  16. Deiche
    Encore 1
  17. Auf den billigen Plätzen
  18. Der Tag wird kommen
  19. Ich danke der Academy
  20. Landungsbrücken raus
    Encore 2
  21. Den Revolver entsichern

Links:
www.kettcar.net

Daphne Dlugai
Daphne Dlugaihttps://www.be-subjective.de
Daphne Dlugai. Eine lebendige Mindmap aus einem Kessel Buntes, läuft wie ein Duracellhäschen, wenn man Kaffee, kaffee, kaffee (hier als Nomen, Verb und Adjektiv verwendet) in ihr System kippt. Oder Schokolade. Im Herzen eine Disneyprinzessin (definitiv Mulan, die anderen sind zu girly),  im echten Leben Teilzeitcholerikerin, audiophil Vinyladdicted und ist Daphne ein bisschen sonderbar. Oder war es Sonderpädagogin? Wir wissen es nicht so genau. Man munkelt sie ist wegen Schokolade auf Bewehrung und versucht diese Schwäche mit Bastelkram zu kompensieren. Funzt! Alles ist schöner mit Kerzen! Sogar Kerzen.

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