Review: Against Me! und Tim Vantol …schon wieder? (29.06.2017, Bremen)

Donnerstagabend. Bremen ertrinkt im Regen. Durchnässte Menschen sammeln sich im Saal des Kulturzentrum Lagerhaus. Luftfeuchtigkeit nach kurzer Zeit bei 150%. Trocken wurde an diesem Abend niemand mehr. Dabei fing alles so gemütlich an.

Bereits um 19:30 Uhr entert ein gutgelauntes Männchen mit Gitarre die kleine Bühne. Déjà-vu. Den kennt mensch doch. Tim Vantol, der nette Nachbar aus den Niederlanden, hat es mal wieder geschafft sich ins Vorprogramm einer Spitzenband zu schleichen. Vor wenigen Monaten spielte der sympathische Singer/Songwriter bereits den Pausentroubadour für The Wholls und Royal Republic im etwas größeren Aladin. (Bericht und Fotos siehe Link)

Tim Vantol (Foto: Thea Drexhage bs! 2017)

Heute wärmt er das triefende Publikum für The Dirty Nil und Against Me! auf. Ein Job, den er im Schlaf zu beherrschen scheint. In einem charmanten Mix aus Deutsch und Englisch nimmt er Kontakt zu den Gästen auf und schafft es bereits nach kurzer Zeit, die ersten Mitsingchöre zu beschwören. Bei Songs wie „Nothing“ und „If we go down, we will go together“ fällt dies auch gar nicht schwer. Man müsse nicht mal den Text kennen, so Vantol. Nachdem sich das Publikum in seine Gunst gesungen hat, verrät der Sänger sein Geheimnis: Er tauche so oft in Vorprogrammen auf, um sich danach Abend für Abend tolle Konzerte ansehen zu dürfen. Logisch. Das noch etwas dünn gesähte Publikum ist angetan von der Warm-Up-Auswahl und schunkelt im Discokugelschein zu Vantols folkig-schönen Liedern.

Scheißegalrocknrollalternative
grungepunkpop

The Dirty Nil (Foto: Thea Drexhage bs! 2017)

Nach einem Verhältnismäßig kurzem Set nimmt Tim Vantol am Merchandisestand Platz, um sich die drei Kanadier von The Dirty Nil anzuhören, denn aus ansehen wird nix mehr – der Saal füllt sich bis in die dunkelsten Ecken. Mit „Nicotine“ eröffnet die recht junge Band ihr Set. Nach dem ersten Song kramt Sänger Luke Bentham ein zerknülltes Zettelchen aus seiner Hosentasche. „Das mixte Leed haist“ steht dort geschrieben. „I’m trying to expand my vocabulary“, entschuldigt er sich. Süß. Genau wie das Sternchenhemd – süß. Und die Kaugummiblasen – süß. Und der Herzchenluftballon – auch süß. Aber das war es dann auch schon mit dem „Süß-sein“.

The Dirty Nil spielen einen Scheißegalrocknrollalternativegrungepunkpop, lässig nebenbei, als wäre es das einfachste auf der Welt. Der frische Wind der 90er weht durch Bremen. Das Publikum wird mobil, die Schweißtropfen auch. Mensch tanzt und springt und lauscht, aber das Set-Ende betrauert niemand. Denn der Höhepunkt steht noch bevor.

The Dirty Nil (Foto: Thea Drexhage bs! 2017)

Noch immer quetschen sich Nachzügler in den eigentlich schon vollen Laden. Auf der Bühne beginnt der hektische Abbau. Die Einmannroadieshow Brad Clifford stimmt sich quer durch das Instrumentenspektrum, bevor er Schlagzeug und Banner enthüllt. Against Me!. Endlich. Es wird dunkel bevor die kalifornischen Punkrocker um Transgenderikone Laura Jane Grace, ehem. Tom Gabel, die Bühne entern.

„I was a teenage anarchist
Looking for revolution
I had the style, I had the ambition
Read all the authors, I knew the right slogans“

Keine Vorwäsche sondern direkter Schleudergang. Jung und Alt, Punkrocker und Glitzerfee, ein Querschnitt aus Bremens LGBTIQ Gemeinde –  das gesamte Publikum rotiert. Arme, Beine, Köpfe, Füße, Knoten überall. „Pints of Guinness make you strong“ – irisches Geheimrezept.

Against Me! (Foto: Thea Drexhage bs! 2017)

Laura Jane Grace –  eine Naturgewalt. Es dauert eine Weile, bis sie sich traut für eine kurze Ansage den Vorhang aus Haaren zu lüften, hinter welchem sie sich ohne Grund zu verstecken scheint. Es geht um Liebe, um Gleichberechtigung, Vielseitigkeit und Toleranz. Eine Selbstverständlichkeit im Saal des Lagerhofs, während im restlichen Deutschland noch über die „Ehe für alle“ abgestimmt werden muss. Haarvorhang wieder runter. Weiter geht’s!

Against Me! (Foto: Thea Drexhage bs! 2017)

Die schnellen Punkrocksongs, größtenteils von den beiden jüngsten und für Laura Jane Grace vermutlich wichtigsten Platten „Transgender Dysphoria Blues“ und „Shape Shift with me“ rasen nur so vorbei. Während das Publikum schon etwas runterfährt wirbelt Bassist Inge Johansson noch immer über die Bühne, als würden ihm die 250° Celsius im kleinen Saal nichts ausmachen.

Kurzes; heftiges Aufbäumen. „Transgender Dysphoria Blues“

Als die Band kurz hinter die Bühne verschwindet gibt es Zugabeschreie statt durchatmen. Die MusikerInnen kehren zurück. Etwas gedämpfter geht es weiter. Doch dann kurz vor Ende noch einmal ein Umschwung. „True Trans Soul Rebel“. Alle Stimmen erheben sich. Regenbogenfahnen werden geschwungen.

„Does god bless your transsexual heart, True Trans Soul Rebel?“

Wer glaubt, dies sei der Höhepunkt wird beim letzten Song noch einmal eines Besseren belehrt. Die Menge brüllt so laut mit, dass von der Band kaum noch was zu hören ist.

„I wanna piss on the walls of your house
I want to chop those brass rings off
Your fat fucking fingers“

Die Explicit-Warnungen, welche Against Me!s Plattencover zieren, interessieren hier niemanden.

“Black me out”
Black out.
Out.

Galerien (by Thea Drexhage bs! 2017):

The Dirty Nil (Foto: Thea Drexhage bs! 2017)

Setlist The Dirty Nil:

  1. Nicotine
  2. Zombie Eyed
  3. Pain
  4. Cinnamon
  5. High
  6. Wrestle Yü to Hüsker Dü
  7. Smoking is Magic
  8. Friends in the Sky
  9. Know your Rodent
  10. No Weaknesses
  11. Fuckin’ Up Young
  12. Little Metal Baby Fist

 

Against Me! (Foto: Thea Drexhage bs! 2017)

Setlist Against Me!

1. I was a Teenage Anarchist
2. Pints of Guinness make you Strong
3. Dead Friend
4. 333
5. Haunting, Haunted, Haunts
6. Unconditional Love
7. New Wave
8. Up the Cuts
9. T.S.R.
10. Cliché Guevara
11. Transgender Dysphoria Blues
12. Delicate, Petite and Other Things I’ll Never be
13. Rebecca
14. Pretty Girls (The Mover)
15. Ocean
16. Androgynous (Replacements Cover)
17. Bamboo Bones
18. Walking is Still Honest
19. Sink, Florida, Sink
20. True Trans Soul Rebel
21. Black Me Out

Links:
www.againstme.net
www.timvantol.com
www.facebook.com/thedirtynil

Thea Drexhage
Thea Drexhagehttps://www.be-subjective.de
Thea Drexhage hat Salma Hayek einiges voraus! 10 mm. Wie die meisten Frauen der Redaktion, Duffy, Beth Ditto, Joan Rivers oder Angus Young kann sie die MusikerInnen aus dem Bühnengraben also völlig problemlos sehen, wenn jemand ihren Hocker trägt, wird aber - das hat sie mit Salma dann doch wieder gemein - dennoch viel zu oft auf Ihre Körpergröße, ihre Mähne und ihre leicht misanthropischen Anflüge reduziert. Damit sie also nicht im nächstbesten Titty Twister von Sonnenunter- bis Sonnenaufgang Menschenmengen und Bläser mätzelt, halten wir “Aggro-Thea”, die zuvor ganze Landstriche in Mecklenburg Vorpommern ausgerottet hat, halbtags im spießbürgerlichen Oldenburger Exil an der langen Leine. Seither legt sich die scheißpünktliche existentialistische Besserwisserin analog mit Sartre, Camus & Kodak an und ja, auch wir müssen neidlos zugestehen, dass der Instagram-Account ihrer beiden Katzen “Salma” und “Hayek” mehr Follower pro Tag hat, als unser webzine im ganzen Jahr.

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